Carlos Ruiz Zafóns früher Schauerroman “Mitternachtspalast“

Es war der Sensationserfolg des Jahres 2003 - Carlos Ruiz Zafóns mysterienpralles Buch "Der Schatten des Windes", das mitten in Barcelona in eine Welt voller Geheimnisse und Gefahren führt. Und den Autor auf Platz 1 der "Spiegel"-Bestsellerliste. Kein Wunder, dass Fischer, der deutsche Verlag Carlos Zafóns, nun im Vor-Bestsellerleben des Autors gräbt und dessen frühere Romane ins Deutsche übersetzen lässt. Ob so ein Vorgehen jedoch unbedingt ein Gewinn ist?

"Der Schatten des Windes" lebt von einer sehr dichten, auch psychologisch gereiften Handlungsführung, die die Leser von Seite zu Seite zwang und der blühenden Fantasie des Autors straffe Zügel anlegte. Nun ist im Fischer-Verlag Zafóns "Mitternachtspalast" erschienen, ein früher Versuch des Autors im Genre des Geheimnisvollen, in dem die Grenzen zwischen Erlebnis, Traum und einem obskuren Schattenreich fließend sind.

Zafón entführt seine Leser ins Kalkutta des Jahres 1932, die Hauptpersonen sind Waisenkinder, die im Refugium von Thomas Carter - dem Waisenhaus St. Patrick's - behütet aufwachsen. Etliche von ihnen haben sich in einem Geheimklub, der Chowbar Society, zusammengetan, der sich in einem verlassenen Haus trifft. Einer dieser Jugendlichen ist Ben, der unter besonderen Umständen ins Waisenhaus kam, weil seine Eltern ermordet wurden. Dass er eine Schwester hat, weiß er nicht, denn die fürsorgliche Großmutter hat sie getrennt aufwachsen lassen. Sie wollte vermeiden, dass der Mörder der Eltern seine Rache auch auf die Kinder ausdehnen kann.

Doch das Böse schläft nicht; kurz bevor Ben 16 Jahre alt wird und das Waisenhaus verlassen muss, wird er in eine Serie bedrohlicher Ereignisse hineingezogen, trifft auch seine Schwester Sheere wieder - und die Chowbar Society muss tief in tödliche Rätsel der Vergangenheit eintauchen, um herauszufinden, von wem Gefahr droht und warum. Zafón löst das in bewährter Schauerroman-Manier. Die Chowbar Society recherchiert an den verschiedensten Plätzen der unübersichtlichen Stadt, jedes Mitglied nach seinen Kräften und Fähigkeiten. Der Autor konstruiert fantastische Plätze - das mörderische Labyrinth eines ausgebrannten Bahnhofs, die rätselhafte Villa von dessen genialem Erbauer.

Zafón spielt in "Der Mitternachtspalast" seine Stärken aus: verwunschene Orte, verschlungene Handlungspfade, ein immer präsenter Hauch ernsthafter Gefahr und junge Charaktere, mit denen sich vor allem junge Leser leicht identifizieren können. Anders als beim "Schatten des Windes" ist in diesem 1994 publizierten Buch vieles holzschnittartig, das Schwebende, Angedeutete, das fein Geraunte fehlt. Zu vorhersehbar gestrickt ist der Handlungsablauf, zu eindimensional die Personen; Carlos Ruiz Zafón trägt oft in reichlich dicken Farben auf, das nimmt dem Leser des "Mitternachtspalasts" allerdings den Reiz, die Bilder im eigenen Kopf wachsen zu sehen.

Carlos Ruiz Zafón: Mitternachtspalast. Ins Deutsche übersetzt von Lisa Grüneisen. Fischer Verlag, 393 S., 18,95 Euro