Sadie Jones begibt sich in ihrem Roman “Kleine Kriege“ auf die Spuren der englischen Kolonialherrschaft im Zypern der 50er-Jahre

Die Suche nach einem geeigneten Romantitel hat Autoren und Lektoren schon manche schlaflose Nacht bereitet. Schließlich entscheidet er mit darüber, ob Leser überhaupt nach einem Buch greifen. Nur haben leider zugkräftige Titel oft kaum etwas mit dem Inhalt des Buchs zu tun. Die Engländerin Sadie Jones hat bei ihrem zweiten Roman auch das wieder richtig gemacht: "Kleine Kriege" heißt das Buch, und genau darum geht es: um das Jahr 1956 auf Zypern. Richtig in die Nachrichten kamen Zypern und der Zypernkonflikt erst zwei Jahre später; 1956 war die Suezkrise das alles beherrschende Thema.

Im Schatten des Nahostkonflikts spielten sich auf der Mittelmeerinsel, damals noch britische Kronkolonie, Tragödien ab, von denen die Weltöffentlichkeit kaum Notiz nahm. Linear erzählt, unaufgeregt in der Sprache und ohne jede Larmoyanz setzt Jones jenen ein Denkmal, die zwischen die Terrorakte der militanten Untergrundorganisation EOKA und die Repressionen des zunehmend nervösen britischen Militärs gerieten; jenen, die starben oder Angehörige verloren, die an Körper oder Seele versehrt wurden, ob sie nun an den Auseinandersetzungen beteiligt waren oder nicht.

Bereits in ihrem Debütroman "Der Außenseiter" hatte sich die Autorin als Kennerin psychologischer Zusammenhänge ausgewiesen. Die wahren Dramen spielen bei ihr unter der Oberfläche. In "Kleine Kriege" dienen ihr die zypriotischen Zustände als Folie für die Erosion, die die Persönlichkeit von Henry Treherne und seine Ehe erfasst.

Major Treherne, Absolvent der Elite-Militärakademie Sandhurst, soll daran mitwirken, die EOKA unter Kontrolle zu bringen; seine Frau Clara und die beiden kleinen Töchter folgen ihm nach Limassol. Die Anschläge nehmen zu, die Gefahr kommt auch Henrys Familie näher und verleiht Claras scheinbar unbeschwertem Alltag einen bedrohlichen Unterton. Zugleich erlebt der passionierte und patriotische Soldat Dinge, die seinen Glauben an die Richtigkeit seines Einsatzes tief erschüttern. Allenthalben explodieren Sprengsätze, sogar am Strand fließt reichlich Blut, britische Soldaten beteiligen sich an Folter, Mord und Vergewaltigung.

Henry will seine Krise lange nicht wahrhaben. Zwischen ihm und Clara herrscht bedrückende Wortlosigkeit; sie werden sich immer fremder bis hin zur Trennung. Erst als seine eigene Familie von einem Anschlag betroffen wird, ist Henry in der Lage, selbstbestimmt zu handeln.

Es ist eine Stärke von Jones, wie genau und zugleich lakonisch sie Henrys Entwicklung protokolliert. Gegen seine nervenzerfetzenden Tage setzt sie die geradezu demütigende Belanglosigkeit des Lebens im britischen Klub, zu dem seine Frau und seine Kinder verdammt sind. Die Atmosphäre der 50er-Jahre, ihre Enge, die Mode, die formellen Umgangsformen, all das fängt Jones mit dem erfahrenen Blick der Drehbuchautorin ein. Der Leser hat den Staub des gleißenden Zypern förmlich zwischen den Zähnen, er spürt die Kühle von Englands Regen und Grün.

Dass die Handlung etwas zäh in Gang kommt, hat seinen Grund in ebendieser Erzählweise. Jones buchstabiert auch Nebensächliches aus und setzt ihre Technik, in dramatischen Momenten andere Handlungsstränge dagegenzuschneiden und so die Spannung zu steigern, allzu oft ein. Auch verwickelt sich Brigitte Walitzeks klares Deutsch gelegentlich in der englischen Satzstellung. Im letzten Viertel nimmt die Sache aber so an Fahrt auf, dass man das Buch kaum noch weglegen kann.

Henry und Clara begegnen dem Leser über weite Strecken eher als Abziehbilder denn als ausgeprägte Persönlichkeiten: er der Disziplinierte, der nichts will als seine Frau zu lieben und seinem Vaterland zu dienen, und sie die Sanfte, Folgsame. Erst die Umwälzungen am Schluss beglaubigen die vormalige Flachheit: Hier sind zwei, ohne dass die Autorin den pädagogischen Zeigefinger heben müsste, aneinander und an den Verhältnissen erwachsen geworden.

Sadie Jones verflicht in das Schicksal einer Familie das Gesellschaftsporträt einer Epoche. Mehr noch: Durch die nüchternen Zeilen glüht ein Manifest gegen die Folter, dieses Verbrechen, das auch Jahrzehnte nach den scheinbar unbedeutenden Scharmützeln auf einer fernen Mittelmeerinsel noch zum Arsenal der Überlegenen gehört.

Sadie Jones: Kleine Kriege, Schöffling, 448 S., 22,95 Euro

Sadie Jones liest am 26.11., 20 Uhr im Buchladen Osterstraße 171