Schneidige Werke von 18 Cut-out-Künstlern in der Kunsthalle

Hamburg. Die Bezeichnung "zeitgenössischer Scherenschnitt" wirkt erst einmal wie ein Widerspruch in sich: Handelt es sich bei der Technik doch um eine Kunstform, die ihre Blüte in der Goethezeit erlebte, also im 18. und 19. Jahrhundert. Vorrangig wurden Porträts zurechtgeschnitten; stellen wir uns einen Aristokraten vor, vom Kerzenlicht vor Transparentpapier erhellt, die Silhouette verewigt für die Geschichtsbücher. Ein klarer Kontrast, schwarz auf weiß. Und verstaubt. Doch die Ausstellung "Cut. Scherenschnitte 1970-2010" in der Kunsthalle räumt auf mit dieser Vorstellung. Aus Scherenschnitt wird "Cut out" - so einfach ist das. Die Werke sind zum Teil erst für die Ausstellung entstanden und den Kuratorinnen Petra Roettig und Henrike Mund zufolge "brandheiß".

Gemäß des Titels "Cut" präsentiert die Galerie der Gegenwart einen "Ausschnitt" aus dem Schaffen von 18 Cut-out-Künstlern. Die trennen den Scherenschnitt von seinem antiquierten Image auch dadurch, dass sie seinen Handlungsspielraum erweitern: "Cut" zeigt schneidige Werke, die den dreidimensionalen Raum erobern, in Tausenden, orangefarbenen Schnittstreifen von der Decke hängen wie ein strömender Säureregen aus Papier. Und auch mit anderen Elementen wird experimentiert: Mit Film und Folien und Schattentheater, mit riesigen Mammut-Werken, wie dem der englischen Künstlerin Charlotte McGowan-Griffin, deren neun Meter langer, begehbarer weißer Wal mit seinen Tonnen von Papier zu den definitiven Highlights gehört.

Ebenso Philipp Loerschs Werk "XIII. Buch, §15 (A.3) / Apfelbaumglas". Der junge Berliner Künstler hat einen großen Würfel aus einzeln gefärbten Nylonfäden erschaffen, in deren Mitte ein ausgeschnittenes Zeichen-Diagramm-Wunder hängt. Einen Monat hat er intensiv daran gearbeitet. Überhaupt: Die sauber geschnittenen Linien, die Gnadenlosigkeit des Verschneidens - viele der Werke lassen keinen Zweifel daran, dass die Künstler hoch konzentriert und mit einer genauen Vorstellung im Kopf ans Werk gehen.

Besonders beeindruckend sind die Werke von Annette Schröter aus Leipzig, zum Beispiel "Kawummh!": Während im Vordergrund eine feine Gesellschaft aus einem Caspar-David-Friedrich-Gemälde von Klippen in die Weite schaut, explodiert dort ein riesiges, urbanes Graffiti-Monster.

"Cut. Scherenschnitte 1970-2010" ist noch bis zum 6. Februar 2011 in der Galerie der Gegenwart zu sehen. Parallel hierzu findet die große Retrospektive zu Philipp Otto Runge (1777-1810) in der Kunsthalle statt, der den deutschen Scherenschnitt als Erster zur Kunstform entwickelt hat und viele der jungen Künstler inspirierte.