Die Mythen des Zwillingsdaseins beim Simple Life Festival - unsere Autorin kennt das gut. Auch Sie hat eine Doppelgängerin.

Hamburg. Wenn zwei sich gleichen wie ein Ei dem anderen, rattern die Projektionen in den Köpfen munter los. "Wie fühlt sich das an, ständig sich selbst zu sehen?", wird neugierig nachgefragt. Dabei ist eines doch sonnenklar. Als Zwilling sieht man nicht sich selbst, sondern eine fremde Person. Nur dass diese einem zufällig ähnlich sieht. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe selbst eine Doppelgängerin.

"Du wolltest vor mir davonlaufen wie vor deinem eigenen Schatten", sagt Anna K. Becker zu Esther Becker in der Theaterperformance "That Enemy Within", die beide mit der argentinischen Regisseurin Lola Arias erarbeitet haben. "Wir wollten beide wissen, was es heißt, eine zu sein, und nicht immer zwei", sagt Esther Becker. Oder war es doch Anna? Mit zusammengebundenen Haaren turnen die Zwillinge über ein Karussell. Wie meine Schwester Evamarie und ich als Kinder, spielen beide hier innig Klavier zu vier Händen. Und plötzlich spucken sie sich an. Eine Kuriosität für all jene Geschöpfe, die, glücklich oder nicht, allein durchs Leben gehen müssen. Unmöglich für den Zuschauer, herauszufinden, wer da wer auf der Bühne ist. Beim Auseinanderhalten anderer hilft auch das eigene Zwillingsdasein übrigens nicht weiter.

Die Mythen um verschworene Symbiose und telepathische Gedächtnisleistungen eineiiger Zwillinge, um genarrte Geschlechtspartner und getrennt ausgewählte, identische Gartenzäune, halten sich hartnäckig. Die Performance, die ab heute für zwei Tage auf Kampnagel gastiert und das Simple Life Festival 2010 eröffnet, spiegelt die Erwartungen, die die Umwelt seit jeher an uns Zwillinge stellt.

Anna K. Becker und Esther Becker kennen diese Geschichten. Als Künstlerinnen haben sie einen eigenen Zugang zu dem Thema gewählt. Anna lebt als Regisseurin in Berlin, Esther als Schauspielerin im schweizerischen Zürich. Wie gut, dass ihre Telefone bei der Skype-Konferenz die Stimmen unterscheidbar machen. "Wir haben in der Schweiz ein Stück entwickelt, bei dem wir beide auf der Bühne standen und beide Regie geführt haben", erzählt Anna Becker. "Das wollten wir vertiefen." Sie hatte bereits mit Stefan Kaegi von Rimini Protokoll, bekannt für Einbindung von Laien als "Experten des Alltags", zusammengearbeitet. Dann traf sie Lola Arias. Die argentinische Regisseurin verfolgt wie Rimini Protokoll einen biografisch-dokumentarischen Ansatz. Authentizität überhöht sie mit den Mitteln der Performance.

Der Titel der Produktion "That Enemy Within" taucht im Stück unter anderem als Zeile eines Bob-Dylan-Songs auf. "Irgendwer ist immer der innere Feind", sagt Esther dann. Oder war es Anna? In einer Kombination aus Porträt und Lecture beleuchtet der Abend Facetten des Zwillingsdaseins, Erlebnisse der Becker-Zwillinge, Identitätssuche, erste Liebe und die Entscheidung für zwei Seiten einer Kunst.

Ergänzt sind sie um wissenschaftliche Erkenntnisse etwa der Minnesota-Studie über (männliche) Zwillinge, die getrennt aufwuchsen und beide in erster Ehe eine Linda und in zweiter Ehe eine Betty ehelichten. Sie reflektieren Doppelgängertum und Double, Original und Kopie. "Du willst nicht ignoriert werden, aber du willst auch nicht im Mittelpunkt stehen", sagt Anna Becker im Stück. "Du willst was Besonderes sein, ich will sein wie alle anderen", sagt Esther Becker. Oder Anna. "Zwilling sein ist immer ein besonderes Phänomen, weil es automatisch Fragen nach Identität aufwirft", erklärt Esther. "Für viele hat das etwas Unheimliches." Für uns Zwillinge natürlich nicht. Denn für uns ist es einfach Realität. Ein Fluch sind für die Becker-Schwestern, wie für alle Zwillinge, die immer gleichen Fragen. "Man kann nie neutral etwas tun. Immer heißt es gleich, man tut erstaunlicherweise etwas ganz anderes oder natürlich dasselbe", sagt Anna Becker. "Mich beschäftigt bei dem Stück ganz stark die Frage, warum man jemanden nicht einfach individuell so lassen kann, wie er ist."

Solidarität lässt sich auch unter Zwillingen nicht uneingeschränkt einfordern. "Es gab Momente, wo die andere sie nicht gebracht hat, weil sie entschieden hat, Individuum zu sein und ihre eigene Meinung anzubringen", sagt Anna K. Becker. "Es ist schon komisch, wenn die Inhalte so nah an einem dran sind", sagt Esther Becker. "Aber die Form bietet immer auch einen Schutz."

Die natürliche Nähe zur Doppelgängerin sorgt bei jedem Zwilling früher oder später für einen Fluchtreflex. Die Sehnsucht nach der eigenen, klar abgegrenzten Identität wird zur starken Kraft. Meine Schwester und ich haben uns irgendwann geweigert, die gleiche Kleidung, wenn auch in unterschiedlichen Farben, zu tragen. Bis zum Abitur hatten wir die gleichen Noten in den gleichen Fächern. Studiert haben wir in unterschiedlichen Städten. Und heute sind wir nicht Feinde, sondern allerbeste Freunde.

Auch die heute 30-jährigen Becker-Zwillinge haben sich nach dem Abitur getrennt. Anna K. Becker studierte am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften der Universität Gießen, Esther Becker lernte Schauspiel an der Hochschule Musik und Theater Zürich. "That Enemy Within" will keine universellen Antworten auf die letzten Geheimnisse liefern, was Identität ausmacht. "Es gibt diesen Moment im Stück, wo mir immer die Tränen kommen. Ich frage mich dann, würde Esther tatsächlich noch in den Spiegel schauen können, wenn ich nicht mehr da wäre?", sagt Anna Becker. "Ein bisschen Seelenstriptease muss sein."

Simple Life Festival 2010 vom 12. bis 21.11./ Lola Arias, Becker & Becker: That Enemy Within 12./13.11., 20.00, Kampnagel (Bus 172, 173), Jarrestraße 20, Karten 8,- bis 15,- unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de