Der Hamburger Publizist kann es nicht mehr ertragen und rechnet zornig mit den Seichtgebieten der deutschen Kultur ab - am Beispiel des Fernsehens.

Hamburg. Wart ihr schon pinkeln?" Was für ein Begrüßungssatz! Der Saal tobt, Mario Barth bleibt gern beim Thema: "Frauen gehen zu zweit auf Klo, und ich weiß jetzt auch warum. Die eine muss, die Aktive. Die andere steht Schmiere, sonst kann die nich." Barth macht Furzgeräusche, zwei Minuten lang. Erzählt, dass Männer nicht erwachsen werden wollen, dass er zu Hause jetzt im Sitzen pinkeln muss. Mit solchen Einlagen füllt der Entertainer das Berliner Olympiastadion mit 70 000 Plätzen.

Dem Buchautor und Journalisten Michael Jürgs reicht's. "Das ist so unterirdisch, dass es schon an die Verletzung der Menschenwürde grenzt", sagt er. "Wenn Verona Pooth bei Barth in der Show auf dem Schoß sitzt und fragt: 'Bist du das oder ist das dein Handy?' - dann ist doch Schluss!" Wirklich? Jürgs weiß es selbst: Dann ist noch lange nicht Schluss. In seiner neuen Streitschrift nimmt er sich die "Seichtgebiete" unserer Kultur vor, Untertitel: "Warum wir hemmungslos verblöden".

Zum Beispiel "Das perfekte Promi-Dinner" bei Vox: "Da wird warmes Essen an Leute ausgeteilt, die außer ihrer unmittelbaren Verwandtschaft keiner kennt." Zum Beispiel "Germany's Next Top Model" bei ProSieben: "Heidi Klum gibt die Domina mit einer Stimme, als sei sie die Tochter von Woody Woodpecker: Ich habe bei ihr nicht eine einzige Modulation gehört, bei der man merken würde, dass sie mit den armen Würstchen mitleidet." Jürgs' Fazit: Die Dosis an Schund, Unbildung, Monstrositäten und Werteverflachung im Land ist zu hoch. Sie verdirbt die Maßstäbe dafür, was gute Unterhaltung und Information ist. Bedeutungsloses wird mit Wichtigkeit aufgeladen, und der Unterschied zwischen Satire und Quatsch verschwimmt sowieso. "Wenn Mario Barth sagen würde: Morgen trete ich mit Horst Schlämmer zur Bundestagswahl an, dann würde er massenhaft Stimmen kriegen", sagt Jürgs.

Die Warnung vor drohender Volksverblödung ist nicht neu. Schon vor 25 Jahren - gerade als die Privaten zu senden begannen - schrieb ein Dr. Gustav Sichelschmidt ein Buch mit dem Titel: "Verblöden die Deutschen?" Inzwischen gehört das Thema zu den Grundsorgen des Zeitgeistes. Neuerscheinungen häufen sich. 2008 verkauften Anne Weiss und Stefan Bonner ihren Erfolgstitel "Generation Doof" als heitere Abrechnung mit jungen Menschen, die Nordpol für ein Land halten, und schoben inzwischen den Ratgeber "Doof it yourself" nach. Sehr ernsthaft sorgt sich der Medienpädagoge Jürgen Holtkamp in "Verblöden unsere Kinder?" um die Erziehung. Alexander Kissler hat sich für sein neues Buch "dummgeglotzt": "Wie das Fernsehen uns verblödet".

Jürgs will aufrütteln und sich streiten, und so liest sich auch sein Buch. Da hat sich eine lang angestaute Wut entladen. Vor allem den vermeintlich seriösen öffentlich-rechtlichen Sendern wirft er vor, dass sie auf die Verflachung eingeschwenkt sind. "Der ARD hätte ganz bestimmt nicht Bruce Darnell mit einer 'Styling Show' passieren dürfen", sagt er. "Es hätte ihr auch nicht passieren dürfen, ihre Politmagazine einfach zu kürzen. Am Sonnabend erwarte ich von der ARD auch mehr als diese Almdudler-Geschichten wie 'Da wo die Liebe wohnt'. Die Öffentlich-Rechtlichen sind laut Medienstaatsvertrag zu Qualität verpflichtet - von Quote steht da nichts."

Der "Dummgeglotzt"-Autor Alexander Kissler geht anders vor. Minutiös zerpflückt er einzelne "Reportagen", Dokusoaps, "Ratgeber"-Sendungen und "Real-Life-Soaps" wie "We are Family", "Lebe deinen Traum", "Raus aus den Schulden". Zum Beispiel die RTL-Reportage "Schamlos glücklich - die Zeigefreudigen". Die Kamera begleitet ein Pärchen, beide Amateurpornofilmer, das seinen Sex im Internet verkauft. Danach einen Frankfurter Nudisten , der lieber arbeitslos bleibt, weil er sich nichts anziehen will. Hinterfragt wird ihre infantile Weltsicht nicht: Mit einverständigen und distanzlosen Kommentaren macht sich die Moderatorin zur Kumpanin.

Oder "Lebe deinen Traum": Eine 17- und eine 20-Jährige wollen unbedingt eine Schönheitsoperation - der Körper wird renoviert wie eine verwohnte Küche. "Sarah will eine OP, und zwar sofort", heißt es im Text, "ihre Nase steht ihrer Karriere als Sängerin im Weg." Wenn man etwas wirklich will im Leben, dann darf man sich davon keinesfalls abbringen lassen - das ist die neue Lebensphilosophie, die natürlich auch Mario Barth und Dieter Bohlen verbreiten. Argumente, ob solche Operationen bei Minderjährigen vernünftig oder schädlich sind, würden hier wohl nur ermüden.

Vielleicht musste einfach noch mal jemand aufschreiben, warum solche Machwerke das Prädikat "schlecht" verdienen:

- Das Grenzwertige und Abstruse wird als "professionelle Arbeit" und "normaler Alltag" verkauft. Dagegen gilt der tatsächliche Alltag normaler Menschen erst als bedeutend, wenn er zum Drama wird.

- "Schicksale werden ausgestellt, nicht hinterfragt", wie Kissler sagt. Es gibt keine Maßstäbe, anhand derer man die zur Schau gestellten Verhaltensweisen und Haltungen bewerten kann. Jeder Durchgeknallte kann sich produzieren.

- Reality-Soaps geben vor, "authentisches Leben" zu zeigen. Wo es sich in Wahrheit um durchgeplante Szenen mit Laiendarstellern handelt, können die Zuschauer nicht erkennen.

- Was Fernsehbilder nicht hergeben, wird einfach bedeutungsschwanger draufgetextet.

- Viele Millionen Menschen lassen sich, alle einschlägigen Formate zusammengenommen, "tagein, tagaus von solchen für wahr gehaltenen Geschichten ihr Menschenbild abschleifen". Die Real-Life-Soap "We are Family!" (ProSieben) erreicht immerhin knapp 18 Prozent Marktanteil unter der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen und ist damit das erfolgreichste Nachmittagsformat im deutschen Fernsehen; "Lebe deinen Traum" bringt es auf zwölf Prozent Marktanteil.

Letztlich ist das die Kernfrage, die Kritiker wie Jürgs, Kissler, Bonner und Weiss umtreibt: Welches Bild vom Menschen und von unserer Gesellschaft prägen Sendungen, die normale Zeitgenossen wie Witzfiguren und soziale Randexistenzen als Normalfall präsentieren? Welche Orientierung fürs Leben geben sie, wenn man angeblich nicht mit Wissen und Kompetenz, sondern allein mit einem unreflektierten "Ich will" alles erreicht? Man könnte dagegenhalten: Wir leben in einer ausdifferenzierten Mediengesellschaft - auch nach unten ausdifferenziert; da gehört es eben zu den Kollateralschäden, dass mehr schlechte Konzepte und grobe Verletzungen journalistischen Handwerks vorkommen. Das lässt Michael Jürgs nicht gelten. "Auch bei den Privaten gibt es Leute, die hervorragend Nachrichten präsentieren, etwa Peter Kloeppel", sagt er. "Und es gibt doch gute Unterhaltung: 'Boston Legal' oder 'Life' bei Vox, die schwedischen Krimis beim ZDF. Filme von Nico Hoffmann wie 'Die Luftbrücke' bei RTL. 'Schillerstraße' bei Sat.1. Da müsste man doch fragen: Wie kriegen wir es hin, mehr davon in Deutschland zu machen?"

Ein großes Unbehagen hat die Bildungsschicht erfasst. Deutschlands Ruf in der Welt gründete sich bisher auf technisches Fachwissen und philosophische Klugheit. Warum zelebriert dieses Land jetzt so öffentlich seinen intellektuellen Niedergang? Die Kritik richtet sich vor allem gegen den Marktliberalismus, der nicht nur das Finanzgebaren der Banken, sondern auch Verlage und Sender verändert hat: Starren sie nicht gläubig auf Quoten, Marktanteile und Renditen, anstatt sich auf den Sinngehalt ihrer Produkte und auf ihre Informationspflicht zu konzentrieren? Die Medien, so der Vorwurf, geben ihre gesellschaftliche Widerstandsmacht als "vierte Gewalt" auf. Sie prostituierten sich, sie "verschimmeln als Agentur der Aufklärung", wie es die "Frankfurter Allgemeine" einmal formulierte.

Wer gute Unterhaltung machen will, braucht eine Haltung. Aber den Spagat zwischen Kreativität und Informationsfreiheit, Fairness und Selbstkontrolle bewältigt die Medienrepublik noch nicht. Wer vertritt eigentlich die Interessen von Mitwirkenden und Konsumenten gegenüber den Programmmachern? Eine Art Verbraucherzentrale für Mediennutzer gibt es nicht.

Michael Jürgs: Seichtgebiete - warum wir hemmungslos verblöden (C. Bertelsmann; 256 Seiten, 14,95 Euro)

Alexander Kissler: Dummgeglotzt - wie das Fernsehen uns verblödet (Gütersloher Verlagshaus; 192 S., 16,95 Euro)