“Briefe bewegen die Welt“, fand Buchautor und Literaturkritiker Hellmuth Karasek und sammelte die schönsten Schriften von Brecht und Co.

Hamburg. Ein Brief kann dringlich und nachdenklich sein, böse oder ein Dokument der Vertraulich-, der Gefühligkeit. Und er kann schlicht Nachrichten übermitteln: Sigmund Freud teilt 1895 seinem Forscherkollegen, Wilhelm Fließ in Berlin, in einer kurzen Briefnotiz Bahnbrechendes mit: "Die Hyst[erie] ist die Folge eines praesexuellen Sexualschrecks." Es sind nur ein paar Zeilen, die Freud zu Papier bringt, Fließ erwartet sie ungeduldig.

So war das früher, als niemand am Computer E-Mails tippte. Der Brief hat als Medium der Kommunikation ausgedient, was niemanden daran hindern sollte, sich seiner als mythisches, historisches, schönes und manchmal vermisstes Kulturgut zu erinnern. "Briefe bewegen die Welt" heißt der von Hellmuth Karasek herausgegebene Band, der eine abwechslungsreiche und nicht unbedingt erwartete Auswahl an Briefen versammelt.

Der große Philosoph Walter Benjamin schrieb am 2. August 1940 einen letzten Brief aus Frankreich an den in Amerika untergeschlüpften Theodor W. Adorno: "Ich hoffe, dass ich Ihnen bisher den Eindruck gegeben habe, auch in schwierigen Augenblicken gefasst zu bleiben." Sechs Wochen später war Benjamin tot; auf der Flucht vor den Nazis brachte er sich um, er war ohne Hoffnung.

Es geht um die Geschichten hinter den Briefen, um die Verwicklungen und Lebensschicksale der Absender und Adressaten, mal ums Ganze und mal ums Beiläufige. Dabei liegt der Reiz nicht unbedingt in der Qualität der Briefe selbst, sieht man einmal von den Dichtern des germanischen Heldengestirns ab: Auch Goethe und Hölderlin kommen zu Wort.

Der opulente Band, der mit Porträts und Lebensabrissen den Briefpartnern Gesicht und Biografie gibt, druckt jeden Brief als Faksimile nach und beginnt mit einer staatstragenden Angelegenheit: Im Briefwechsel zwischen Konrad Adenauer und Theodor Heuss geht es 1952 um die Frage, ob das Deutschlandlied die Nationalhymne werden soll. Adenauer war dafür und schrieb an Heuss: "Bei staatlichen Veranstaltungen soll die dritte Strophe gesungen werden." Der Disput dreht sich um die berechtigten Empfindlichkeiten in der Welt ("Deutschland, Deutschland über alles"), die Argumentationslinien und Formulierungen der Staatslenker sind formvollendet und ausführlich.

Heute weiß man um den SMS-Verkehr von Kanzlerin Angela Merkel et al., und man sieht Politiker mit iPad im Bundestag. Man stellt sich vor, wie nicht nur Newsletter, sondern auch persönliche Mails zwischen Ministerien und Fraktionen umherschwirren. Andere Zeiten: Früher wurde geschrieben, maschinell oder handschriftlich. Der Brief Otto von Bismarcks an seinen zukünftigen Schwiegervater Heinrich von Puttkamer zum Beispiel ist ein mysteriöses Schriftstück; die verschlüsselten Handschriften, die im Laufe der Zeit eine dicke Patina angesetzt haben (edel und erhaben wirken sie), sind eine optische Zugabe des Briefbands.

Der Erkenntnisgewinn liegt in der Vielfalt der Temperamente, Leidenschaften und Dinge, die in einem Brief zum Ausdruck kommen können; und in der Gesellschafts- und Kulturgeschichte, die sich in den Briefen der vergangenen Jahrhunderte spiegelt. Heinrich Köselitz schreibt an Carl Fuchs, um ihm Nietzsches schrecklichen Zusammenbruch in Turin mitzuteilen. Heinrich von Kleist schreibt vor seinem Freitod seiner Schwester Ulrike einen Abschiedsbrief (" die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war"). Karasek, der Brieffreund, schreibt übrigens keine E-Mails, der Kulturjournalist und Literaturkritiker ist das Exemplar einer generationsbedingt standhaft außerhalb der digitalen Welt bleibenden Spezies. Nennen wir sie liebevoll die analogen Agenten der Old School. Karaseks Liebeserklärung an den Brief offenbart die Zuneigung für eine Form, sie zeugt von Geschichtsbewusstsein und berichtet aus Zeiten, in denen der Brief das einzige Kommunikationsmittel war, wenn man dem Adressaten nicht direkt gegenüberstand.

Literarische Qualität finden wir in den Briefen, die in den bürgerlichen Kreisen während des Epochenumbruchs um 1800 kursierten: Die deutsche Hochsprache entwickelte und verbreitete sich in der Korrespondenz der Gesellschaft, insbesondere natürlich der ihrer Dichter. Briefe waren Renommierobjekte, in denen die Schöngeister ihre Bildung zu Markte trugen. Friedrich der Große schrieb seinem Freund Voltaire auf Französisch, die Sätze flossen übers Blatt wie ein perfektes Beispiel barocker Üppigkeit. E-Mails wirken dagegen wie effiziente Schwundstufen der Korrespondenz.

Es gibt übrigens Menschen, und nicht zu knapp, die manierliche Mails schreiben: mit Groß- und Kleinschreibung. Goethe hätte elektronische Post an Schiller nicht anders formuliert als papierne, sie wäre nur schneller da gewesen. Der Dichter Brecht, ohnehin aller Ästhetizismen und Romantizismen unverdächtig, ist in Karaseks Briefband mit einem sachlichen Schreiben an den "Volkseigenen Betrieb Radeberg Exportbierbrauerei Radeberg" vertreten. Die DDR musste bis 1958 Lebensmittel rationieren, Brechts Bettelbrief ("Können Sie vielleicht ausnahmsweise, eine Zeit lang im Monat zwei Kästen [...] liefern?") spricht Bände: So toll war es im sozialistischen Deutschland nicht.

Die Post sponsert dieses schöne Kompendium, das gibt dem Ganzen eine spezielle Note. Als müsste der Wert des Briefs von seinem größten Dienstleister beglaubigt werden. Überdies ist die Sammlung nicht zu geschmäcklerisch und elitär: Der in literaturwissenschaftlichen Kreisen berühmte (fiktive) Brief des Lord Chandos an Francis Bacon, verfasst von Hugo von Hoffmannsthal, ist wohl auch aus dem Grund dieser Fiktionalität nicht dabei. Wir dürfen annehmen, dass der Literaturmensch Karasek zumindest gezuckt hat.

Hellmuth Karasek: "Briefe bewegen die Welt" . Verlag teNeues. 159 Seiten, 19,90 Euro