Sofia Coppola kreiert in “Somewhere“ eine Atmosphäre der Fremdheit zu sich selbst. Das verbindet sie mit Camus' “Der Fremde“ - und mit uns.

Hamburg. Abends ist er unterwegs, auf Partys und in Clubs, nur möglichst nicht zu Hause. Denn mit sich allein hält er es nicht aus. Er hat 100 Freunde bei Facebook, aber keinen, der sich wirklich für ihn interessiert. Er verbirgt sich hinter seinem iPhone, seinem Laptop, seinem Auto - und täglich muss er die Fassade neu aufbauen. Der Mensch dahinter aber ist verkümmert und hat sich über die Jahre immer weiter von sich selbst entfremdet.

Sofia Coppola charakterisiert in ihrem Film "Somewhere " einen modernen Menschen. Sie überspitzt die Darstellung, indem sie einen Hollywood-Schauspieler als Beispiel auswählt. Johnny Marco (Stephen Dorff) lebt im legendären Hotel Chateau Marmont am Sunset Boulevard von Hollywood. Er hat Geld, er ist berühmt, doch sein Leben ist völlig leer. Für sein Amüsement bestellt er sich ein Zwillingspärchen in sein Apartment und lässt sie an der Stange tanzen wie in einem Stripclub. Doch auch die erotischen Verrenkungen geben ihm keinen Kick: Marco schläft ein. Am meisten Spaß scheint es ihm zu machen, wenn er in seinem Ferrari-Cabrio durch die Gegend kreuzt. Monotonie bestimmt sein Leben.

Tatsächlich ist dieser "moderne Mensch" keine zeitgenössische Erfindung. Den Prototypen hat der französische Nobelpreisträger Albert Camus in seiner Erzählung "Der Fremde" geschaffen. Camus' Protagonist Meursault hat einen Job als Angestellter, den er penibel ausführt. Eine Beförderung interessiert ihn jedoch nicht. Er hat eine hübsche Freundin, die ihm eigentlich egal ist. Er erschlägt einen Araber und wird zum Tode verurteilt. Aber selbst das drohende Schafott interessiert ihn nicht. Meursault ist nicht fähig zur Empathie, seine Gleichgültigkeit gegenüber seinem Leben ist schockierend.

So wie Meursault keine Gedanken über die eigenen Handlungen zulässt, geht es auch Coppolas Filmfigur - und einer neuen Generation von Aufsteigern. Nur die Karriere ist wichtig. Dafür funktionieren sie innerhalb der Firmen, in denen sie arbeiten. Diese Rolle erfüllen zu müssen und nur im Sinne ihrer Unternehmen denken und handeln zu müssen hat sie von ihrem Leben entfernt. Das Private ist gleichgültig geworden. So wie der Schauspieler oder der Musiker mit dem öffentlichen Druck fertigwerden müssen, der an den Ruhm geknüpft ist, muss der moderne Karrierist mit dem Druck der Anforderungen in einer immer komplexeren Arbeitswelt fertigwerden.

Marco hält sein Leben nur mit Alkohol und Apathie aus, der Karrierist befriedigt sich mit Statussymbolen. Am Ende dieser Überforderung steht oft das gefürchtete Burn-out-Syndrom. Wenn bei Berühmtheiten das Ego kollabiert, wird das medial ausgeschlachtet. Die Popsängerin Britney Spears zum Beispiel rannte vor ein paar Jahren in einen Friseurladen und ließ sich aus einem negativen Reflex heraus eine Glatze scheren, das Supermodel Kate Moss kompensierte gefühlte Millionen Stunden am Schminktisch und vor den Objektiven von Starfotografen mit exzessivem Kokaingenuss.

Die Popgeschichte ist voll von Stories, in denen Musiker ihre Hotelzimmer verwüsten, nachdem sie die Minibar leer gesoffen haben. Diese Übersprungshandlungen sind oft Ausdruck einer großen Einsamkeit und Leere. Was mag den US-Schauspieler Charlie Sheen geritten haben, der vor ein paar Wochen eine Suite im New Yorker Nobelhotel Plaza demolierte und nun eine Rechnung über 20 000 Dollar erwarten darf? Vielleicht ist es in all diesen Fällen die Sehnsucht danach, sich selbst zu spüren, die Fremdheit zu sich selbst zu überwinden. Ein Problem, das nicht nur Prominente betrifft, sondern mit dem Psychologen tagtäglich in ihren Praxen konfrontiert werden.

Albert Camus "Fremder" sagt am Ende der Erzählung: "Der wunderbare Frieden dieses schlafenden Sommers drang in mich ein wie eine Flut. (...) Als hätte diese große Wut mich vom Bösen geläutert, von Hoffnung entleert, öffnete ich mich angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne zum ersten Mal der zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt." Meursault geht zufrieden und glücklich in den Tod, er findet zu sich.

Sofia Coppolas Held Johnny Marco erkennt durch die Begegnung mit seiner elfjährigen Tochter den Wert von Bindungen. In unserer Gesellschaft nimmt die Zahl der Aussteiger zu oder derjenigen, die wenigstens ein Sabbat-Jahr nehmen, um wieder zu sich zu kommen und die Teile ihrer Persönlichkeit freizulegen, die durch Arbeits- und Erfolgsdruck überlagert worden sind.

Sofia Coppola kreiert in ihrer Bildsprache eine Atmosphäre der Einsamkeit und des Fremdseins. Das verbindet ihre Filmarbeit mit der Sprache und dem zentralen Thema bei Albert Camus. Sowohl "Somewhere" als auch die 1942 erschienene Erzählung "Der Fremde" sind von beeindruckender Aktualität. Es sind Beispiele für Selbstentfremdung und Bindungslosigkeit. Meursault lehnt sich dagegen auf, bei Johnny Marco spürt man am Ende, dass er sein Problem verstanden hat. Und auch der moderne, zwangsflexible und karriereorientierte Mensch hat die Chance, an sein verschüttetes Ich heranzukommen. Spätestens beim Psychiater.