Noch ein Missbrauchsfilm, bei dem einem der Atem stockt: “In aller Stille“ mit Nina Kunzendorf, die auf überforderte Frauenrollen abonniert scheint.

Ein zurückgebliebener Teenager, der von seinen Pflegeeltern zum Anschaffen gezwungen wird, um die Haushaltskasse aufzubessern. Ein Dreijähriger, der von den Eltern stundenlang im Schlafanzug in eisiger Kälte stehen gelassen wird. Dessen Körper übersäht ist von blauen Flecken, Schürfwunden, von der Seele ganz zu schweigen. Und mittendrin Kommissarinnen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Nicht gerade typischer Stoff für Krimistorys, möchte man meinen, ist doch der erste Impuls beim Thema Kindesmissbrauch: umschalten, wegschauen, ausblenden.

Wie selten diesem Impuls nachgegeben wird, dürfte mit ein Grund dafür sein, dass jeder Fernsehermittler zumindest einmal in seinem Berufsleben mit minderjährigen Missbrauchsopfern konfrontiert wird. Nichts fesselt so sehr wie das Böse, zu dem Menschen fähig sind. Nichts macht so wütend wie Hilflosigkeit. Und sind die besseren Stücke der Krimigattung nicht ohnehin immer Familien- und Sozialdramen gewesen, in denen das Verbrechen nichts weiter ist als ein Vehikel, um die Wirklichkeit des Landes zu schildern?

Knapp neun Millionen Zuschauer sahen vergangenen Sonntag Maria Furtwängler alias Charlotte Lindholm im "Tatort" zu, wie sie angesichts des verstörten Kindes in ihrem Haus an ihre psychischen Grenzen gelangte; heute Abend tut es ihr Nina Kunzendorf im ARD-Krimi "In aller Stille" gleich. Da trifft es sich gut, dass die Schauspielerin, die im kommenden Jahr an der Seite von Joachim Król dem Frankfurter "Tatort" zu neuem Glanz verhelfen soll, auf überforderte Frauenrollen geradezu abonniert scheint: Eine Sterbebegleiterin in "Marias letzte Reise", eine vergewaltigte Studentin im "Polizeiruf 110". Nie aber war sie so verzweifelt wie in diesem Fall, nie so übermüdet, gestresst und von der Schlechtigkeit der Welt überzeugt wie als Dorfpolizistin Anja Amberger. Die Rolle ist Kunzendorf auf dem schmächtigen Leib geschrieben, ein idealer Part für die Schauspielerin, die sagt: "Mich reizen Figuren, die etwas zurückhalten, und keine, die permanent die Karten auf den Tisch legen." Amberger jedenfalls ist keine, die leicht zu fassen ist, weder für ihre Mitmenschen noch für den Zuschauer.

Aufbrausend ist sie und auf so herrliche Weise inkonsequent, dass man sich wundert, wie es das Drehbuch durch die strengen Fernsehredaktionen dieses Landes geschafft hat. Sie trinkt zu viel, obwohl sie am nächsten Morgen früh raus muss, knutscht mit ihrem Kollegen (Maximilian Brückner) und schreit ihre Tochter an, dass es kein Erziehungsratgeber gutheißen würde.

Dabei ist der Titel "In aller Stille" in diesem Fall wörtlich zu verstehen: Regisseur Rainer Kaufmann hat einen stillen, fast verlangsamten Film gedreht, der wirkt, als habe man ihm alles Leben ausgehaucht. Selbst die Sexszenen sind seltsam heruntergedimmt, und wenn den Ermittlern schließlich ein schwarzer Müllsack in Kinderkörperform vor die Füße plumpst, stockt selbst hartgesottenen Zuschauern der Atem.

"Ich will das Kind gar nicht finden, weil man sich dann immer noch vorstellen kann, dass nichts passiert ist", sagt der Kollege noch - und nun stehen sie alle wie versteinert und starren auf den Plastiksack zu ihren Füßen. Es müsste Überraschendes in diesem Fernsehjahr passieren, damit "In aller Stille", das sensible Drehbuch (Ariela Bogenberger) und die 90 Minuten am Abgrund balancierende Hauptdarstellerin keinen Grimme-Preis gewinnen. Es wäre nicht der erste für Nina Kunzendorf, die sich glücklicherweise in den dunklen Fernsehfilmecken zu Hause fühlt und beschlossen hat: "Für so ein Projekt lasse ich jede Komödie links liegen."

In aller Stille, heute, 20.15 Uhr, ARD