Eine gewaltige Dia-Projektion taucht den Kubus der Galerie der Gegenwart noch bis zum 7. November in neues Licht

Hamburg. "Welches ist denn nun die richtige Ecke?", fragt eine ältere Frau ihre Tochter, die eine Kunststudentin mittleren Semesters zu sein scheint, als beide auf die Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle blicken. Und in der Tat: Der markante Gebäudekomplex, der große weiße Würfel am Glockengießerwall, sieht ganz anders aus als sonst, sobald sich die Nacht über Hamburg legt.

Beim frontalen Anblick ist es, als trete eine neue Ecke zwischen den zwei bekannten Ecken hervor, als verzerre sich das quadratische Flachdach des Würfels, als sinke ein Teil herab - kurzum: als habe die Galerie der Gegenwart neue Ecken und Kanten.

"Gegenwart II" nennt sich die Großprojektion des Künstlers Hinrich Gross, bei der zwei perspektivisch versetzte Standbilder der Galerie der Gegenwart mit zwei 6000 Watt starken Dia-Projektoren ("normale" Projektoren haben gerade mal 250 Watt) auf das Gebäude projiziert werden. Das Wirkliche interferiert mit dem Virtuellen und löst sich ineinander auf; auf die konkrete Materie der Galerie wird mit Licht eine körperlose Ebene neu erschaffen, sodass eine Art Skulptur entsteht. Doch diese Skulptur ist nicht fühlbar, nicht aus Stein, es handelt sich um ein sichtbares Gedankenspiel, das die Architektur des Gebäudes in exponierter Lage aushebelt und destabilisiert. Der Kunst-Kubus wird auf seinem Podest gedreht und zu einem Oktogon verformt. Die Kunststudentin bringt es auf den Punkt: "Der Würfel ist gefallen."

Hinrich Gross' Kunstwerk arbeitet nach dem Prinzip anamorphotischer Bilder, die nur von einem bestimmten Punkt aus richtig zu erkennen sind und ihre Bedeutung entfalten. Im Falle der Großprojektion hat der Betrachter den besten Blickwinkel, wenn er von der Ecke an der Binnenalster diagonal über die Kreuzung Glockengießerwall/Ballindamm schaut. Von dort werden die Ebenen ununterscheidbar, sodass eine neue Realität entsteht; wenn man so will, auch eine zweite Gegenwart.

Bei der neuen Realität handelt es sich um eine Sinnestäuschung, die die Wahrnehmung der Menschen auf dem Weg von der Arbeit nach Hause beeinflusst. Die Umsetzung des Projekts stieß deswegen zuerst auf behördliche Widerstände. Bei einem Testlauf musste die Polizei stundenlang am Straßenrand stehen und den Verkehr beobachten: Wirken die Autofahrer abgelenkt? Alle Risiken wurden ausgeschlossen, sodass "Gegenwart II" noch bis zum 7.11. ab Einbruch der Dunkelheit bis ein Uhr nachts angesehen werden kann.