Der Schriftsteller ist im Alter von 83 Jahren gestorben. Das Schreiben war ihm wichtiger als erfolgreiche Bücher.

Amsterdam. Das Leben als großes erzählerisches Paradox, Literatur längst, bevor sie geschrieben ist? Wer hätte darüber besser zu berichten gewusst als der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch? Als Sohn eines ehemaligen österreichischen K.u.k-Offiziers und einer Frankfurter Jüdin hat Mulisch 1927 in Haarlem das Licht der Welt erblickt. In den von den Deutschen besetzten Niederlanden kollaborierte der Vater mit den Nationalsozialisten. Gerade dieser Umstand war es, der Mulischs Mutter das Leben rettete.

Dass sich am Ende, in den größten Verwicklungen, ein unverhoffter Ausgang findet, hat zu den utopischen Überzeugungen eines Mannes gehört, dessen Familienschicksal ebenso singulär wie exemplarisch war. Neben den wenigen glücklich Überlebenden gab es die toten Verwandten der Konzentrationslager. Mit dem berühmt-pathetischen Satz: "Ich bin der Zweite Weltkrieg" hat der Schriftsteller seine politische Sozialisation beschrieben.

Als junger Mann beobachtet Harry Mulisch den Eichmann-Prozess in Israel und macht daraus die Reportage "Strafsache 40/61". Es folgen Engagements gegen das Bedrohungspotenzial des Kalten Krieges und gegen den Einsatz der USA in Vietnam.

Harry Mulisch war ein politischer Schriftsteller, der diese Eigenschaft in weitreichende Metaphern und erzählerische Volten kleiden konnte.

Mit "Das Attentat" hat er in den frühen Achtzigerjahren über den Widerstand gegen die deutsche Besetzung der Niederlande geschrieben. "Siegfried" hieß eine 2001 auf Deutsch erschienene "schwarze Idylle", die Hitler einen Sohn andichtete, und aus diesem Einfall heraus ein Werk von geschichtsphilosophischem Anspruch machte. Eva Braun, wie sich herausstellt, eine Jüdin, ihr Sohn deshalb dem Tod geweiht. Hitler, das große Nichts?

Ein starkes Stück Literatur, mit dem Harry Mulisch die böse Leerstelle des 20. Jahrhunderts markiert, um sie mit eigenen Erfindungen zu füllen. "Ich fantasiere nie, ich erinnere mich an Dinge, die nie geschehen sind", hat Mulisch einmal in verwirrender Klarheit gesagt.

Ausgeklügelt ist die Symbolik in den Romanen des Niederländers. Auch wenn sie manchmal wie am Reißbrett gemacht erscheint, entwickelt sie einen überaus großen erzählerischen Sog. Mulischs Schreiben, diese Mischung aus journalistischen Arbeiten, aus Prosa, Lyrik und Essays, ist ein stetes Work in Progress, der Weg ist dabei schon ein Ziel, und betrachtet man die über viele Jahre anhaltende Produktivität, dann leuchtet ein, was der Autor einmal über sich und seine literarische Arbeit gesagt hat: "Es geht mir nicht darum, Bücher geschrieben zu haben, sondern darum, sie zu schreiben."

Es ist eine Literatur der Täuschungen und der Doppelungen, die seit Mulischs Debüt im Jahr 1951 entstanden ist. "Archibald Strohalm" heißt die erste Figur. Sie führt ein Leben zwischen Spiegeln, muss surreale Wandlungen in Kauf nehmen und geht ihrer Versalien verlustig, bis er nur noch "archibald strohalm" genannt wird.

Es ist ein weiter Weg bis zum erzählerischen Luxus von Harry Mulischs prächtigem Roman "Die Entdeckung des Himmels", einem literarischen Weltgebäude, das auf den Säulen der Metaphysik, der Bildung und des Wissens ruht. Harry Mulisch hat hier über Gott und die Welt geschrieben, und das ist durchaus im wörtlichen Sinn zu verstehen. Wer das Werk des intellektuellen Fabulierers gelesen hat, der kennt den Kurzschluss zwischen Sein und Schein, zwischen dem Rationalen der Forschung und dem Erfindungsgeist der Literatur.

Eine "Golem"-Variation liefert 1999 Harry Mulischs Roman "Die Prozedur". Tod und künstliches Leben schießen hier zum Bild zusammen, es ist eine anspielungsreiche melancholische Gegenwart, die Mulisch hier in wenigen Strichen zeichnet. Ein Wissenschaftler, der im Labor golemgleiche Menschen herstellt und mit dem menschlichen Schicksal zu hadern hat. Die Tochter mit dem anspielungsreichen Namen Aurora hat die Morgenröte nicht mehr gesehen. Sie ist bei der Geburt gestorben. Mit seiner Mischung aus Science-Fiction und Moral ist das Buch eine weitere Probe aufs bereits gegebene Exempel.

In seinem Roman "Die Entdeckung des Himmels" hat Harry Mulisch schon Jahre zuvor stupendes Wissen und großräumige Fantasie hineingepackt. Die große Kosmologie aus dem Jahr 1992 hat den niemals wirklich bescheidenen Schriftsteller noch berühmter gemacht als sein zehn Jahre zuvor erschienenes Buch "Das Attentat".

Zum wichtigsten niederländischen Buch aller Zeiten haben Mulischs Landeskollegen das Buch gewählt. Das ist ein Ergebnis, das nicht ohne Ironie zu nehmen ist, aber es sagt doch etwas aus über die alchemistische Literatur des europäischen Schriftstellers.

Enzyklopädisches Wissen und eigene Erfahrung, Geschichte und Geschichten hat Harry Mulisch in seinem Werk zum großen zeitgenössischen Bild zusammengesetzt. Die Wirklichkeit des Lebens hat Mulisch in seinen Romanen noch einmal erfunden. Und mit ihm den Tod, ohne den das grausame 20. Jahrhundert nicht zu denken ist.

In der Nacht zum Sonntag ist Harry Mulisch im Alter von 83 Jahren in Amsterdam gestorben.