Das “Kommando Himmelfahrt“ inszeniert auf Kampnagel Erik Saties Kammeroper “Socrate“ in einer ironisch-coolen Klubversion.

Hamburg. Die tropfenden Pianotöne von Erik Satie klingen vielen bekannt in den Ohren. Quasi ein Avantgarde-Klassik-Ohrwurm. Nahezu unbekannt aber ist sein Spätwerk "Socrate" für vier Sängerinnen und Orchester. Das sinfonische Kurzdrama von 1917 über das Denken, Lieben und Sterben des griechischen Philosophen haben der Hamburger Komponist Jan Dvorak und Regisseur Thomas Fiedler (Kommando Himmelfahrt) für sich entdeckt und präsentieren es auf Kampnagel in einer ironisch coolen Klub-Version.

Einen roten Teppich rollen sie für die Zuschauer aus, mit einem Becher Wein laden sie sie zur "philosophischen Party" in Christian Wiehles Bühnen-Installation. Er hat für den Gelehrten und seine Go-go-Girls, den Sokrates und seine Schüler(innen), einen "Gedankenkäfig" aus Metallstreben errichtet, mit spiegelndem Boden und blitzenden Scheinwerfer-Batterien. Sie blenden das Publikum zu Beginn, erzeugen ein wanderndes Licht und flackern wie in der Disco.

Im Schattenriss ist zunächst das Standbild des Sokrates erkennbar. Der Säulenheilige aller Philosophen auf einem Podest. Der Begründer des abendländischen Denkens, von dem heute kaum jemand etwas Genaues weiß. Und wenn, dann nur in Schlagworten. Dass Sokrates den Schierlingsbecher trinken musste. Dass er eine Megäre von Eheweib namens Xanthippe hatte. Und dem der Ausspruch "Ich weiß, dass ich nichts weiß" fälschlicherweise und noch dazu verfälscht zugeschrieben wird. Die Denkerposen wechselt dieser weibliche Sokrates elegant. Schicke Sonnenbrille, weißes Gewand. Der Gelehrte, Menschenforscher und gewitzte Kritiker der attischen Demokratie ähnelt mehr einem Modefoto. Statt des edlen bärtigen Marmorkopfs eine Karikatur aus dem Journal.

Sie wird von Saties Musik umschmeichelt und spöttisch kontrapunktiert. Die Band "Music Hall" spielt Dvoraks Pop-Version nach der Original-Partitur. Er hat sie für E-Gitarren, Saxofon, Klarinette, Schlagzeug und Keyboards arrangiert, verwendet auch zu Beginn quasi als Ouvertüre klangsatte Variationen der "Gymnopédies"-Ohrwürmer. Unverkennbar Satie. Doch er verleiht dessen Kompositionen eine moderne, nicht unbedingt zeitgeistige Farbe und Rhythmen, die eher an Barmusik denken lassen.

Nicht von ungefähr sind Klub-Ambiente und der an die Zeiten der Music Hall erinnernde Sound gewählt. Satie musste als Barpianist im Café-Cabaret seinen Lebensunterhalt bestreiten. Er kannte die damalige Avantgarde der französischen Maler und Musiker, rebellierte gegen den etablierten Musik- und Theaterbetrieb. Mit dem jüngeren Claude Debussy führte er erbitterte Dispute darüber, wer wen beeinflusst und kopiert hätte. "Socrate" wiederum zählt zu seinem Spätwerk, er hat es im Auftrag der lesbischen Prinzessin von Polignac komponiert und verwendete Dialog-Passagen aus Platons "Symposion" ("Gastmahl") in der Übersetzung von Victor Cousin. Die Prinzessin wünschte sich eine weibliche Verkörperung des homoerotischen Eros von Sokrates und seinen Geliebten, was auch Saties Vorliebe für Frauenstimmen entgegengekommen war.

Die Girl Group Dunkle Mädchen übernimmt in der einstündigen Aufführung die Rollen, die man zwischen den Akteuren, aber auch bequem sitzend von der Tribüne verfolgen kann. Die vier Sängerinnen geben den schwierigen, rezitativisch angelegten Partien auf Französisch mit ihren Pop-Stimmen eine lyrische Leichtigkeit und einen weichen, weniger spröden Ausdruck. Im ersten Teil singt der schöne Sokrates-Schüler Alkibiades (Jacqueline S. Blouin) ein Loblied auf seinen Lehrmeister. Im zweiten Teil wandelt Phaidros (Cordula Grolle) mit dem Mentor am idyllischen Ufer des Ilissos. Eine Szene in arkadischem Frieden. Verführerisch lassen die Sängerin und ihre Gefährtinnen die langen weißen Chitons über den aufreizenden Dancefloor-Dresses fallen. Sie umlagern malerisch Sokrates, erinnern in der anschmiegsam hingegossenen Haltung an griechische Vasenmalerei. Im letzten und längsten Teil berichtet dann Phaidon (Pia Burnette) vom Tod des Sokrates. Standhaft lehnt er es ab, sich der ungerechten Anklage wegen staatsgefährdender Äußerungen und Verführung der Jugend sowie seiner Verurteilung zum Tod durch die Flucht zu entziehen. Franziska Junges entschlossener Denker geht, wie nach dem tödlichen Schierlingsbecher-Trunk vom Arzt befohlen, stolz und aufrecht seinem Ende entgegen - wie eine Tänzerin in Techno-Trance.

In der gleißend kalten Inszenierung lassen Dvorak und Fiedler einen vermeintlich "veralteten" Humanismus aufleben, stellen ihn wie auf dem Postament zur Schau, um ihn sarkastisch an der materialistischen Spaßgesellschaft scheitern zu lassen. Sokrates weiß zwar die Natur und die Schönheit zu genießen, zögert aber nicht, mit seinem Leben für die Gerechtigkeit und Vernunft einzustehen - auch wenn ihm ein aufgeklärter Daimon (Jo Kappel) unter den Zuschauern skeptische Widerworte gibt. Mag das "Gastmahl" zeitgeistig zur Party verkommen sein, die Gedanken und Werte von "Socrate" mögen im Klang von Wort und Musik überleben - und lösen in den Zuhörern vielleicht ein Echo zu einer gerechten Menschlichkeit aus.

Socrate: 26. /27.10., 20.00, Kampnagelfabrik, Karten: T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de