Tilda Swinton ist frei wie ein Vogel und die Ikone des Independent-Kinos. Auf ihre neue Rolle hat sie sich sieben Jahre vorbereitet.

Berlin. Vielleicht liegt es an den aristokratischen Gesichtszügen, die wirken, als wären sie durch ein Renaissancegemälde gepaust. Vielleicht auch daran, dass sie das Gegenprogramm ist zu all den genormten Hollywood-Schönheiten und patenten Superfrauen wie Julia Roberts und Nicole Kidman. Warum alle Welt beschlossen hat, Tilda Swinton zu lieben? Schwierige Frage. Und noch schwieriger die Feststellung nach einem Treffen mit dieser Frau: Die ist gar nicht so toll, wie alle denken. Die ist noch viel toller.

Tilda Swinton schwebt tänzerinnengleich in die Suite des Berliner Soho House und ordert "frisch gepressten Orangensaft für alle". Die orangerot lodernden Haare, die man erwartet hatte, sind einem weizenblonden Bob gewichen. Die Haut ist porzellanblass, die Fingernägel schwarz wie Blazer und Anzughose. Elegant parkt sie ihren Arm während des Gesprächs auf der samtenen Sofalehne. Dann wieder lässt sie die Hände zwischen ihren streichholzdünnen Beinen baumeln wie ein Bauarbeiter die Pulle Bier in der Mittagspause.

"Es mag anders aussehen, aber ich bin das Gegenteil eines Workaholics", sagt sie, ganz ruhig, ihre Stimme klingt dunkel. Am 5. November wird sie 50 Jahre alt. Danach möchte sie sich eine sechsmonatige Auszeit nehmen.

Tilda Swinton, Muse, Performancekünstlerin, Ikone des Traditionslabels Pringle of Scotland, Liebling des Independent-Kinos und der Feuilletons, ist in die Stadt gekommen, um die Werbetrommel zu rühren für ihren neuen Film "I Am Love" - ein italienisches Sittengemälde über den Zerfall einer großbürgerlichen Familie. Die Buddenbrooks in Mailand, wenn man so will. Sieben Jahre haben Swinton und Regisseur Luca Guadagnino in die Vorbereitung investiert, eigens für die Rolle hat die Schauspielerin Italienisch und Russisch gelernt. Ein Herzensprojekt, kein Kommerzding. Halbe Sachen hat Swinton in ihrer Karriere ohnehin nie gemacht, Existenzialismus interessiert sie mehr als Entertainment. Ihr Prädikat: besonders wandlungsfähig.

Unvergessen die oscarprämierte Darstellung der skrupellosen Konzernanwältin in "Michael Clayton", die vor lauter Versagensangst den Armani-Anzug durchschwitzt und ihn notdürftig auf der Firmentoilette trocknet. Oder ihr Spiel in Sally Potters "Orlando", in dem sie mehrfach Existenz und Geschlecht wechselt. Die weiße Hexe Jadis in den "Chroniken von Narnia" verkörpert sie so überzeugend wie die Alkoholikerin Julia im gleichnamigen Drama, vielleicht die überragende schauspielerische Tour de Force ihre Karriere (zu sehen am 29. Oktober auf 3sat).

Eine Art Tilda-Swinton-Best-Of war dieses Werk - und ähnlich verhält es sich mit "I Am Love": Dem goldenen Gefängnis aus Wandteppichen, Kronleuchtern und Marmorstatuen zum Trotz, nichts fängt den Blick so sehr ein wie die von Swinton gespielte Emma, First Lady eines Familienclans, die mit kerzengeradem Rücken ihr Anwesen durchstreift, umweht von mehr als nur einem Hauch von Unglück. In den Arm nehmen und an sich drücken möchte man diese Frau, wie sie selbst es mit ihren erwachsenen Kindern tut - was die äußerlich so sinnliche, innerlich verhärtete Emma natürlich niemals zulassen würde. Es ist ein Film von leiser Poesie, der sein emotionales Herz seiner Hauptdarstellerin verdankt.

Katherine Matilda Swinton wurde 1960 als Tochter einer schottischen Adelsfamilie geboren. Im elitärsten Mädcheninternat von England drückte sie mit der späteren Lady Diana die Schulbank. Die Zeit mit dem Regisseur Derek Jarman bezeichnet sie als ihre "Geburt als Künstlerin", sieben Filme drehten die beiden bis zu seinem Aids-Tod im Jahr 1994. Swinton machte sich auf die Suche nach einer neuen künstlerischen Heimat. Einer, in der sie ihren Job machen konnte: die Welt umrühren, aufrütteln, hinterfragen. Sie fand sie bei Jim Jarmusch, den Coen-Brüdern, David Fincher. "Ein Filmfan, der in Filmen mitmachen darf" - es gibt wohl kaum eine Schauspielerin, die ihren Beruf derart spröde gelassen beschreibt. Was nicht bedeutet, dass sie für jeden Jux vor der Kamera zu haben ist. Ihre Auftritte dosiert sie wie ein kostbares Parfüm.

Auf ihr Privatleben angesprochen, reagieren Stars oft mit Augenrollen und minutenlangem Eingeschnapptsein. Anders Swinton, deren Stimme zwar so scharf und präzise klingen kann wie eine Ohrfeige, die den Gesprächspartner aber mit höflicher Neugierde ansieht, wenn die Männerfrage im Raum steht. Seit bekannt wurde, dass die 49 Jahre alte Schauspielerin neben dem Vater ihrer Kinder, dem Künstler John Byrne, einen zweiten Mann an ihrer Seite hat, den gebürtigen Heidelberger (und, auch das noch: sehr viel jüngeren) Sandro Knopp, können die Medien gar nicht genug intime Details erfahren über diese unkonventionelle Liaison. Swinton beschreibt es so: Sie habe Kinder "mit einem wundervollen Mann" und lebe mit einem anderen zusammen, den sie zärtlich "my Sweetheart" nennt. Wer das aufregend oder gar anstößig findet - bitteschön. Sie lächelt ihr anmutig-ironisches Tilda-Swinton-Lächeln.

Auch das ist großartig an dieser Frau: die unangepasste, freigeistige Haltung. Die Paradiesvogelexistenz. Der Duft von Punk, mit dem sie die Filmszene bestäubt. Ihr alterloses, leicht androgynes Erscheinungsbild wurde oft mit dem jungen David Bowie verglichen - und zumindest was die coole Lässigkeit betrifft, ist diese Beobachtung nicht von der Hand zu weisen. Tilda Swinton verkehrt alles, was man erwartet, ins Gegenteil. Als frisch gekürte Oscar-Siegerin drehte sie nicht etwa den nächsten Blockbuster, nein. Sie tourte mit einem Kinolastwagen durch die schottischen Highlands, führte Einheimischen und Touristen vergessene Filmjuwelen vor.

Wenn Tilda Swinton nach 30 Minuten aus dem Raum huscht, bleibt ein unwirklicher Zauber zurück. Dabei hat sie über durchaus geerdete Dinge gesprochen. Über den Tod ihres Ex-Freunds Christoph Schlingensief zum Beispiel, dessen schwere Krebserkrankung. "Er wird immer Teil meines Lebens bleiben", sagt Swinton. Noch so ein Satz, den man in Stein hauen könnte.

So fühlt es sich also an, wenn ein Mensch über mehr Aura verfügt als andere Menschen Blutgefäße.