Im St.-Pauli-Theater hat heute Eugene O'Neills “Eines langen Tages Reise in die Nacht“ mit Starbesetzung Premiere

St.-Pauli-Theater. Was für eine Familie! Jeder belauert hier jeden. Und doch kommen sie voneinander nicht los. Vater James Tyrone, ein ehemals berühmter Schmieren-Schauspieler und krankhafter Geizhals, ist Alkoholiker. Ebenso sein ältester Sohn James. Auch der Jüngere, Edmund, trinkt gern, doch sein größeres Problem ist die Tuberkulose, an der er erkrankt ist. Die Mutter, die vom Ehemann betrogen wurde und den ständigen Mangel an Liebe und Geborgenheit nicht aushält, ist Morphinistin und wurde erst vor Kurzem aus der Heilanstalt entlassen.

Eine schlimme Familie? Ja, aber es ist aufregend, ihr zuzuschauen. Das Stück handelt von einer Katastrophe, die am Morgen beginnt und um Mitternacht endet. Am Ende eines Tages voller Enthüllungen und Enthemmungen bleibt ein Trümmerfeld zurück. Autor Eugene O'Neill, selbst Sohn aus einer Schauspielerfamilie (hinter James Tyrone verbirgt sich O'Neills Vater, der jahrelang als "Graf von Monte Christo" Triumphe feierte) und dem Alkohol verfallen, hat mit diesem Stück, für das er posthum den Pulitzerpreis erhielt, nicht nur eine Art Autobiografie geschrieben, sondern Menschen auf die Bühne gebracht, für die man Verständnis und Mitgefühl braucht. Ihre Süchtigkeit ist ein Familienfluch, und so leben sie alle in der Familienhölle.

O'Neill zeichnet sich selbst in der Figur des Edmund. Der labile Autor, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1936, hatte bestimmt, dass das Stück erst 25 Jahre nach seinem Tod aufgeführt werden durfte. Es wirkt wie die Beichte, die der Autor ablegen musste, um nicht zu ersticken. Drei Jahre nach O'Neills Tod hatte seine Witwe es aber doch für die Bühne freigegeben.

Noch niemals vorher vielleicht hat ein Dramatiker ein derart gnadenloses, exhibitionistisches Porträt seiner Familie und seiner selbst zu Papier gebracht. Dieses "Drama eines alten Kummers, geschrieben mit Blut und Tränen" (O'Neill), gab einen Hinweis darauf, in welcher Gegend womöglich die Quelle zu suchen ist, aus der die Hoffnungslosigkeit und tiefe Verzweiflung gespeist wurde, die alle 40 Theaterstücke O'Neills durchzieht: aus der Erinnerung des Dichters an seine Eltern.

Das naturalistisch-psychologische Drama, das in der Tradition von Ibsen und Strindberg steht und immer wieder die Frage nach der Schuld aufwirft, bietet wunderbare Rollen für Schauspieler. Hier treten Menschen auf, die sich anklagen, einander nur für Sekunden näherkommen, sich quälen und die durch ihre unendliche Einsamkeit unauflöslich miteinander verbunden sind.

Bei ihrer Suche nach der Wahrheit rutschen sie immer wieder in den Selbstbetrug, in Scheinwelten oder in den Rausch. Verhängnisvoll und schuldhaft sind sie miteinander verkettet. Sie quälen sich mit Enthüllungen, entdecken jedoch immer wieder Verständnis und Liebe füreinander.

Regisseur und St.-Pauli-Theater-Intendant Ulrich Waller bringt das Stück mit Starbesetzung heraus. Zum ersten Mal hier auf der Bühne steht David Bennent ("Die Blechtrommel"), der den jüngeren Sohn Edmund spielt.

Alle anderen sind Bekannte: Gerd Böckmann (vom Wiener Burgtheater), der bereits in "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" das Publikum begeisterte, spielt den gierigen Geizhals und Vater James. Angela Schmid, als Mutter Mary, gehört seit den 70er-Jahren zu Hamburgs Bühnengrößen. Ben Becker sorgte hier in "Endstation Sehnsucht" für Furore und Anne Weber kann man in vielen Produktionen des St.-Pauli-Theaters bewundern. Sie alle spielen Menschen, die immer wieder daran scheitern, ihrem Leben zu entfliehen.

Die Familie frühstückt, die Sonne scheint. Nur eine Mahlzeit lang schaffen es die Tyrones, die Vergangenheit ruhen zu lassen, dann brechen die alten Streitigkeiten und Vorwürfe wieder hervor, zu verstrickt sind sie in den Teufelskreis von Schuld und Schuldzuweisung. Familie ist ihr Schicksal, dem sie nicht entrinnen. Inhalt des Stückes ist der verzweifelte Versuch aller Figuren, die Schuld am eigenen Dilemma auf die Angehörigen abzuwälzen. Die Geschichte eines Alltags bekommt in diesem Drama die Wucht einer antiken Tragödie. Darin liegt die ganze Größe.

Eines langen Tages Reise in die Nacht St.-Pauli-Theater (U St. Pauli), Spielbudenplatz, Tickets 14,70 bis 44,90 unter T. 47 11 06