Beim Theaterfestival in der Hansestadt gastiert Schauspieler Martin Wuttke mit seiner furiosen Goethe-Performance von “Gretchens Faust“.

Hamburg. Zwei Seelen wohnen in Fausts Brust. Martin Wuttke spielt in seiner rauschhaften Version des Goethe-Dramas den Wissensjunkie und den Mephisto. "Sie verkörpern die Prinzipien von Ratio und Triebnatur, die in einem Menschen widerstreiten", sagt er. "Um mit Nietzsche und Einar Schleef zu sprechen: Sie sind das Apollinische und das Dionysische."

Nach zwei früheren "Faust"-Versuchen mit seinem künstlerischen Mentor Schleef stellte sich der Ausnahmeschauspieler am Berliner Ensemble nochmals dem "Faust": In der aberwitzigen Tour de force eines Solos, das er im Dialog mit dem Pudel Taxi und im Duell mit dem Chor von neun Gretchen entfesselt. Zuletzt war Wuttke slapstick-virtuos bei den Autorentheatertagen am Thalia in den René-Pollesch-Inszenierungen "Das purpurne Muttermal" und der "Fantasma"-Geisterbahnfahrt zu erleben. Heute und morgen gibt er den Turbo-Tragikomiker in "Gretchens Faust" auf Kampnagel.

"Ich wollte Gretchen nicht als Opfer zeigen und bin vom Kerkermonolog ausgegangen", erklärt Wuttke. "Sie ist keine Wahnsinnige, sondern eine intelligente, wache Frau, die dem verblendeten Hornochsen Faust sagt: Flucht aus dem Kerker ist sinnlos, denn das Leben ist ein Gefängnis."

Auf der Bühne ein verteufelt brillanter Komödiant, gibt sich der 48-Jährige im Gespräch ernst, aber freundlich. Er lächelt wenig, raucht mehr. Nicht selten bei Künstlern seiner Sonderklasse. Das Auffallende, Groteske oder Wilde seiner Wahnsinnsfiguren scheint verschlossen zu sein im drahtig-dünnen Körper, explodiert jedoch jäh im Rampenlicht: Brechts "Arturo Ui" am Berliner Ensemble, den er noch immer spielt; sein grandioser Fürst Myschkin in Dostojewskis "Der Idiot" an der Volksbühne; der ambivalente Päderast Christian, mit dem er in Thomas Vinterbergs "Fest"-Fortsetzung "Das Begräbnis" an der Burg triumphierte.

Als junger Schauspieler mit Interesse für bildende Kunst und Literatur begegnete Wuttke Mitte der 80er-Jahre Einar Schleef. "Ich kannte diese Spielleidenschaft nicht. Hätte ich Schleef nicht so schnell getroffen, wäre ich vom Theater weggegangen. Unsere Interessenräume waren ähnlich und er eröffnete mir ganz andere Arbeitspraktiken als auf der Schauspielschule." Konzentriert auf Sprache und Form, bleibt Wuttke - ungeachtet seines Leipziger "Tatort"-Kommissars - dem unpsycholischen Theater treu. "Frank Castorf und die Volksbühne sind meine künstlerische Heimat." An die Hamburg-Jahre erinnert er sich gern. "Bei 'Metanoia' an der Linden-Oper traf ich meinen alten Intendanten Jürgen Flimm."

"Gretchens Faust" ist eine freche, witzige Goethe-Korrektur und eine Hommage für Schleef und dessen künstlerisches Credo "Droge Faust Parsifal". Martin Wuttke zeigt sich überrascht: "Die Verbeugung vor dem Meister habe ich nicht beabsichtigt." Ist doch nichts dagegen zu sagen.

Gretchens Faust 20., 21.10., 20.00, Kampnagel, Karten: T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de