In mehreren Reprisen hat sich Hanns-Josef Ortheil mit seiner Lebensgeschichte befasst, zuletzt in seinem umfänglichen autobiografischen Roman "Die Erfindung des Lebens". Dieser kreiste um eine prägende Kindheitszäsur: um das Verstummen der Mutter, die den Tod von vier Kindern zu verkraften hatte, und um das eigene Verstummen, das das Kind Hanns-Josef nicht zuletzt mithilfe der Musik überwand. Aus der Angst heraus, die Redefähigkeit erneut zu verlieren, begann Ortheil mit acht Jahren Tagebuch zu führen - eine Übung, die er beibehalten hat und die inzwischen über 1000 Kladden füllt. Dank der "Moselreise" ist es nun möglich, einen ersten Einblick in dieses einzigartige Schreibexperiment zu erhalten.

Im Sommer 1963 unternahm der elfjährige Ortheil mit seinem Vater eine knapp zweiwöchige Fahrt an die Mosel, hielt die Eindrücke Tag für Tag fest und formte diese Notate anschließend zu einer Reiseerzählung. Dieser "Roman eines Kindes" ist weit mehr als ein Zeitdokument. Er erzählt auf anrührende Weise von einer symbiotisch-innigen Vater-Sohn-Beziehung, von einer Familie - die herzkranke Mutter sah sich außerstande, die Reise mitzutun -, die wie Pech und Schwefel zusammenhält und die Schreckenserfahrungen so zu überwinden sucht. Ortheils Sommerreise beeindruckt auf mehrfache Weise: Sie folgt einem Rhythmus, der mit touristischer Hektik nichts zu tun hat. Vater und Sohn erkunden gemächlichen Schrittes eine deutsche Kulturlandschaft; sie lassen die Geschichte sprechen, nehmen Literarisches (Stefan Andres' "Der Knabe im Brunnen" beispielsweise) auf, sinnieren über die Aufgaben des neuen Papstes, würdigen den Moselwein und bedenken die Mutter in der Kölner Ferne mit liebevollen Postkarten. Gleichzeitig spiegelt Ortheils Erzählung die Ära der Sechzigerjahre, als man die Hitler-Zeit verdrängte, Verben wie "verduften" und "verputzen" im Munde führte, despotische Jugendherbergsväter erduldete und ein Ferngespräch als großes Abenteuer empfand. Auf einen Nenner gebracht: Hanns-Josefs Ortheils "Moselreise" ist ein Juwel.

Hanns-Josef Ortheil: "Die Moselreise". Roman eines Kindes. Luchterhand, 223 S., 16,99 Euro

In Aufgeblättert stellen im Wechsel Rainer Moritz , Annemarie Stoltenberg (NDR) und Wilfried Weber (Buchhandlung Felix Jud) Bücher vor.