Der großartige Jean-Philippe Toussaint erzählt in “Die Wahrheit über Marie“ eine außergewöhnliche Liebesgeschichte mit einem Hauch von Kitsch

Schon der Beginn ist fulminant: eine der heißen Pariser Sommernächte von drückender Schwüle, die ein Gewitter erwarten lässt. Marie und Jean-Baptiste waren aus und befinden sich, beide leicht angetrunken, in Maries Wohnung. Man trinkt noch etwas, hört Musik und wird zärtlich. Marie schläft ein, bevor es zum Liebesakt kommt.

Alltägliche Dinge, die der Autor in langen, detailverliebten Sätzen schildert. Eine Sprachmelodie in sachlichem Ton, die ahnen lässt, etwas Schreckliches wird geschehen. Und schon bricht das Gewitter los, der Regen ergießt sich durch die geöffneten Fenster auf das Parkett. Das alles erfahren wir von dem namenlosen Ich-Erzähler, der über kurz oder lang auch in der Wohnung auftauchen wird. Er liebt Marie mit einer Intensität, die ihresgleichen sucht.

"Die Wahrheit über Marie" ist das dritte Buch des erfolgreichen belgischen Autors Jean-Philippe Toussaint, in dem es um die Geschichte von Marie und dem Erzähler geht. Und natürlich um Jean-Baptiste, der eine kurze Zeit lang an Maries Seite die Stelle des Erzählers einnehmen wird.

Natürlich nicht wirklich, denn eine solche Liebe wie zwischen diesem und der Angebeteten gibt es kein zweites Mal - unauflöslich ist sie sowieso! Wie in den vorhergegangenen beiden Romanen "Sich lieben" (auf Deutsch 2003) und "Fliehen" (auf Deutsch 2007) geht es in Variationen um dieselbe Geschichte mit demselben Personal, mit neuem, zartem Abschluss. Und wie in jenen spielt sich das Geschehen wieder in Paris und Tokio ab. Alles ist klar, und alles bleibt in der Schwebe.

Marie, eine bekannte Modeschöpferin, ist eine selbstbezogene Frau, ohne Empathie, eine Bohemienne mit Hang zur Schlampigkeit, die in ungewohnten Situationen hilflos wie ein Kind agiert. Wäre da nicht der unterschwellige Erzählton von Bewunderung all ihrer Marotten, wäre sie dem Leser wohl unsympathisch. Doch gelingt es dem Autor, sie mit einer Aura auszustatten, wobei er sie keineswegs schmeichelhaft porträtiert. Gewiss, sie ist eine rätselhafte Person, und das allein übt bekanntlich schon Faszination aus. Auch wir erfahren nicht, wie sie denkt, was sie empfindet, außer der Ich-Erzähler deutet es gelegentlich aus ihren Blicken.

Es soll bei diesem begeisternden kleinen Roman nicht verschwiegen werden, dass gelegentlich ein Hauch von Kitsch über dem Erzählen schwebt, Banales aufblitzt. Da werfen sich die Liebenden "verführerisch schimmernde" Blicke zu oder der Erzähler sieht "Wildheit und Geilheit" in den Augen von Marie. Gleichwohl bejubelten die Franzosen alle drei Bücher - sie sehen in Toussaint einen der ganz großen Schriftsteller der Gegenwart. Die Tageszeitung "Le Monde" stellt ihn neben Kafka und Beckett, man sagt, er sei der letzte Gegenwartsautor, den Beckett noch habe lesen wollen. Übrigens hat die Kritik auch hierzulande die beiden vorausgegangenen Bücher, bis auf wenige Ausnahmen, regelrecht gepriesen.

Doch Marie hin, Marie her: Ist nicht im Grunde der Rivale des Ich-Erzählers die zentrale Person der Handlung? Natürlich mag er seinen Widersacher nicht, kennt ihn auch nur vom Anblick aus der Ferne, und doch spricht Anerkennung aus dem, was er über diesen Rennstallbesitzer aus dem Pariser Großbürgertum zu berichten weiß. Ein Mann mit Fähigkeiten, gewohnt, Anordnungen zu geben und blitzschnelle Entscheidungen zu treffen.

Vielleicht der Mann, der jener Namenlose gern sein würde? Auf jeden Fall macht er eine großartige Figur, als er aus geschäftlichen Gründen aus Japan hastig abreisen muss. Er nimmt Marie mit, die ihn lange warten lässt, bevor sie in der Hotelhalle mit Bergen von unverschlossenen Gepäckstücken erscheint. Obwohl für Jean-Baptiste viel von einer pünktlichen Ankunft am Flughafen abhängt, bewahrt er Contenance und beweist wenig später Mut und Stärke. Mit auf die Reise geht sein Rennpferd Zahir. Das einzige Wesen im Roman, von dessen Innerem wir einen Einblick erhalten.

Einfühlsam versetzt Toussaint sich in das Tier, das keineswegs mit einer Lufthansa-Cargo-Boeing transportiert werden möchte. Was es anstellt, um dem zu entgehen, und was es denken und fühlen mag, das ist so anrührend wie faszinierend erzählt.

In diesem Teil des Romans kulminieren all die großartigen Eigenschaften des Erzählers Toussaint. Er beweist sich als exakt Beobachtender, als bedeutender Autor, der den Rhythmus von Sprachfluss und Stakkato, die Balance zwischen rasantem Geschehen und Stillstand beherrscht.

Jean-Philippe Toussaint: Die Wahrheit über Marie. Aus dem Französischen von Joachim Unseld, Frankfurter Verlagsanstalt, 240 S., 19,90 Euro