Der 50-jährige Amerikaner David Simon thematisiert in seiner TV-Serie “The Wire“ den Niedergang des amerikanischen Reiches.

Köln. David Simon ist jetzt 50, hat den robusten Charme einer frisch gestriegelten Bulldogge und trägt funky schwarzweiße Lederschuhe zu Freizeithemd und Jeans. Mit 22, nach einem mittelmäßigen Highschool-Abschluss, wurde er Journalist, aus Leidenschaft, bei der „Baltimore Sun“. Polizeireporter. Ein harter Hund, garantiert. Einer von denen, die ihre schönsten Textstellen durch den Newsroom bellen, um die Rudelordnung klarzumachen.

Als ein besonders brutaler Drogendealer durchdrehte und etliche Leichen seine Wege durch die Problemviertel Baltimores pflasterten, verglich Simon ihn mit Shakespeares Richard III. Das sei aber nicht im Hauptblatt gewesen, sagt er und grinst beim Gedanken daran, sondern nur so ein Besinnungsaufsatz in der Sonntagsausgabe. Solche Stücke, bei denen man auch mal nachdenken darf, werden von US-Journalisten alter Schule abfällig „thumbsucker“ genannt, Daumenlutscher.

Simon ist alles andere als das: „Einer der Gründe, weswegen ich in den Journalismus ging: ich wollte meine Meinung sagen! Wenn man sich dafür entscheidet, verabschiedet man sich von viel Geld, das man mit anderen Dingen verdienen könnte. Und das ganz bewusst“, berichtet er. „Aber die Belohnung liegt in der Arbeit mit Stift und Block. Man hat eine Stimme! Wie viele Leute gehen täglich zur Arbeit, ohne das zu können. Sie können nicht über ihre Bosse herziehen, sie können nicht über die Regierung herziehen. Als Journalist kann man ordentlich vom Leder ziehen.“ Simon schrieb jahrelang über Mord, Totschlag und ähnliches in einer ungleich schlimmer als Hamburg vom Strukturwandel gebeutelten Ostküsten-Hafenstadt. Deren Einwohner bezeichnen sich mit einer Mischung aus Fatalismus, Stolz und Galgenhumor gern als „Baltimorons“. „Moron“ heißt so viel wie Volltrottel.

Vor etwa 15 Jahren rutschte Simon rein zufällig ins Fernseh-Business. Er hatte ein Buch verfasst, das wurde für die Mattscheibe verfilmt, und man fragte ihn, ob er nicht auch mal ein Drehbuch schreiben wollte.

So fing alles an. Das bislang letzte Kapitel dieser Geschichte: Seit September kann sich David Simon, offiziell bestätigt und mit 500.000 Dollar von der McArthur Foundation aus Chicago beschenkt, für ein Genie halten. Auch wenn seine Frau, ebenfalls Schriftstellerin, am Tag der Benachrichtigung darüber spottete, dass ausgerechnet der Mann mit dem „Genius Award“ wieder einmal seine verdammten Autoschlüssel verlegt hatte.

Den Geniestatus verdankt Simon einer Serie des US-Pay-TV-Senders HBO, die Kritiker und Fans weltweit noch vor der Mafia-Saga „The Sopranos“ und der Bestatter-Ballade „Six Feet Under“ für das Beste halten, was je für den heimischen Bildschirm gedreht wurde.

„The Wire“ spielte fünf Jahre lang in Baltimore, wo auch sonst. Es ging um Drogendealer, die oft gerissener waren als die hinterherfahndenden Cops. Den auf Grund gelaufenen Hafen, das korrupte Rathaus, das marode Schulsystem und am Ende sogar die den von der Medienkrise ins Mark getroffene „Baltimore Sun“. Diese Serie, die seit ihrem Start 2002 mit DVD-Verkäufen weltweit die Produktionskosten wieder reinholt, spielte in der Grauzone zwischen Ehrlich und Böse, sie erzählte mit sehr langem Atem einen Gesellschaftsroman voller faszinierender Charaktere, der süchtig macht, weil er so aufrichtig und leidenschaftlich ist.

Seinen Kurzbesuch, um sich beim Kölner Medienkongress „Cologne Conference“ in Köln seinen x-ten Kritikerpreis für die beste TV-Serie des Jahres abzuholen, stattete Simon einem Land ab, in dem das öffentlich-rechtliche Fernsehen solche Meisterwerke gern so lange im Nachtprogramm versendet, bis die angebeteten Quoten tief genug im Keller sind, um es ganz sein zu lassen. Sie werden in Spartensendern versteckt (aktuell „Mad Men“ bei ZDF neo oder „Breaking Bad“ bei arte) oder schlicht verpennt. Stattdessen werden Schmalzstullen aus dem Hause Degeto ins Abendprogramm gestapelt, Fließband-Flachsinn voller Superweiber und Sonnenuntergänge. Wer hierzulande guten Stoff will, holt ihn sich längst legal auf DVD oder illegal übers Internet ins Haus. Die Import-DVD-Box ist in gehobenen Ständen zum Statussymbol und Geschmacksbestätiger geworden. Gourmet-Fernsehen, das sich viel Zeit nehmen kann, um Fundamentales zu berichten.

Simons wichtigstes Thema ist „der Niedergang des amerikanischen Reichs“, angetrieben wird er auch von einer pessimistischen Grundhaltung. „Können Serien wie ,The Wire’ etwas bewirken? Ich glaube nicht. Die politische Infrastruktur in den USA ist so gekauft, dass wirkliche Reformen derzeit unwahrscheinlich sind“, beklagt er. „Die Dinge, die mich als Reporter motivierten, motivieren mich auch heute noch, obwohl ich keinen Journalismus mehr betreibe. Ich bin immer noch an denselben guten Absichten interessiert“, sagt Simon. „Aber guter, ernsthafter Journalismus hat viel weniger Einfluss auf den politischen Apparat, als das einmal der Fall war. Ich habe schon als Reporter nicht an das Prinzip von Ursache und Wirkung geglaubt. Mein Fall war vielmehr die Logik des Erzählers: Ich hatte eine tolle Geschichte entdeckt, erzählte sie und ging am nächsten Tag auf die Suche nach der nächsten.“

Sein Sendungsbewusstsein beim Erzählen beförderte Simon in den Drehbuchautoren-Olymp der Branche, er erhielt bei HBO den Status „Creator“. Schöpfer. Der Seriengott hatte eine Welt geschaffen, und die ganze Welt sah, dass sie mehr als gut war. Obwohl – das ist relativ. Die Krankenhaus-Serie „Emergency Room“, in der sich George Clooney zum Frauenschwarm hochspielte, erhielt im Laufe der Jahre 122 Emmys, „The Wire“ bekam nicht einen einzigen der TV-Oscars ab. Zwei Nominierungen, mehr war nicht.

Die „Wire“-Lieblingsfigur von US-Präsident Barack Obama ist Omar Little, ein auf seine Art nobler, schwuler Gangster, der seinen Lebensunterhalt damit bestreitet, Drogendealern das schnell verdiente Geld genauso flink zu klauen. „Well, Omar ist der Lieblingscharakter von vielen“, sagt Simon dazu. „Das macht ihn vielleicht mehr zu einem von uns. Omar lebt in den wilden Grenzen der ,inner city’. Er ist wie aus einem Western von John Ford, ein amerikanischer Archetypus.“ Über die soziologischen Deutungsmöglichkeiten seiner Geschichten werden mittlerweile Seminare an Elite-Unis wie Harvard oder Berkeley abgehalten. Diesen Sommer hat ein Kommunalpolitiker in Reykjavik seinen möglichen Regierungspartnern vor der Wahl den Konsum von „The Wire“ empfohlen, weil er danach mit niemandem zusammen arbeiten würde, der das nicht kennt.

Verzückte Rezensenten verglichen das 60-Stunden-Epos mit griechischen Tragödien und Roman-Meisterwerken des 19. Jahrhunderts. Simon verglichen sie mit Balzac, Dostojewski und Dickens. Was das mit einem TV-Autor des 21. Jahrhunderts macht? Dessen Antwort ist eigentlich unübersetzbar: „It fucks him up in the head...“, amüsiert sich Simon, um dann ernst hinterherzuschieben: „Es ist lächerlich. Denken Sie mal an diese Feldherrn im alten Rom. Die hatten bei den Triumphzügen immer jemanden in ihrem Nacken, der ihnen sagte, auch sie seien nur Sterbliche. Man muss sich trotzdem noch täglich der Schreibmaschine stellen.“ Simon sagt tatsächlich Schreibmaschine.

Ist seine Arbeit tatsächlich noch Fernsehen, das seine Geschichten sonst so gern in leicht verdaulichen Portionen auftischt? „Es ist Fernsehen. Aber anders als episodisches Fernsehen mit seinem Stundenrhythmus, das für mich eher ein Bündel aus Short Stories darstellt. Ich gebrauche lieber den Begriff ,novel’ – aber nicht, um so direkt auf Literatur anzuspielen. Es geht um die gleiche Geduld, die Leser bei der Lektüre eines Romans aufbringen. Man sagt nach dem ersten Kapitel von ,Moby Dick’ ja auch nicht, der Wal ist noch gar nicht aufgetaucht, fuck it, ich lese nicht mehr weiter.“

David Simons privater TV-Konsum ist schnell erzählt. Sport vor allem und alte Filme, er schwärmt über die Entdeckung von Edgar Reitz’ „Heimat“-Trilogie. 30 Portionen, 56 Stunden. Ganz nach Simons Geschmack. Peinlich aus deutscher Sicht ist nur, dass dieses Meisterwerk über zwei Jahrzehnte alt ist und seitdem nichts Ebenbürtiges kam. Und sieht Simon konventionellere Serien als seine eigenen, dann auf DVD, weil da die Werbepausen fehlen. „Wenn alle 12 Minuten die Handlung unterbrochen wird – das halte ich nicht aus.“

Komplexe Geschichten, wie Simon sie entwirft, sind ein Luxus, und das weiß er auch. Auf die Frage „Warum tun Sie das?“ antwortet er: „Weil HBO mir eine Leinwand und einige Farben gegeben und gesagt hat: Mach weiter. Sie können aber auch jeden Moment einfach sagen: Genug. Es war nett mit dir, aber wir bekommen einfach kein Massenpublikum; mit dem Geld, das deine Arbeit uns kostet, könnten wir womöglich einen Hit landen. Und ich müsste das auf gewisse Weise respektieren. Dieses Fenster wird nicht immer offen stehen.“ Deswegen war er in Köln auch nur kurz und der Ordnung halber im Dom und im Römisch-Germanischen Museum. Danach ging es zurück an den Laptop, auf dem Drehbuch-Entwürfe und ein Roman-Rohling auf Pflichterfüllung warten.

Den Vorwurf, er sei einer der Totengräber für das konventionelle Zweieinhalbstunden-Kino aus Hollywood, weil die Verführung für so gute Autoren wie ihn viel größer ist, unzählige Handlungsfäden für Serien-Epen zu spinnen, den will Simon nicht auf sich sitzen lassen: „Bis zum heutigen Tag drängt sich Hollywood nicht danach, mit Leuten wie mir ins Geschäft zu kommen. Das Publikum war anfangs nicht da, es kam spät und langsam. Diese Art von Geduld hat da aber niemand. Die wollen ihre 120 Millionen Box-Office-Einnahmen, und zwar sofort. Die Idee, etwas langsam aufzubauen und dann ein Jahrzehnt lang über DVD-Verkäufe zu finanzieren, ist für die Geschäftsleute in Hollywood eine absurde Idee.“

Deswegen ist auch Simons aktuelles Projekt, das er in Köln vorstellte, so liebenswürdig, unkonventionell und packend. Im April lief „Treme“ bei HBO an, benannt nach einem historischen Stadtteil in New Orleans, in dem viele Wiegen des Jazz standen. Drei Monate nach dem Wirbelsturm Katrina begegnet man schrulligen Außenseitern und hinreißenden Musikern, einem leicht vertrottelten Radio-DJ oder einem Englischprofessor, der glüht vor Wut über die Ignoranz der Regierenden nach der Hochwasserkatastrophe. Einige Schauspieler aus „The Wire“ sind wieder mit dabei, dazu lokale Musikgrößen wie Dr. John, Allen Toussaint oder Kermit Ruffins. Eine epische, mitfühlende Liebeserklärung hat ihren Anfang genommen, auch ein Plädoyer für traditionelle Werte. „New Orleans wurde viel zu lang so behandelt, als wäre das nur ein dekadenter Flecken ohne eigene Kultur, mit irgendwelchen Musikern auf der Bourbon Street. Ihre Kultur ist eine der letzten Waffen, die die Bürger dieser Stadt noch haben, um sich bedeutsam zu fühlen.“ Wenn alles gut geht, soll es wie bei „The Wire“ fünf Staffeln geben, die letzte soll beim großen Ölunglück im Golf von Mexiko enden.

In Charles Dickens’ „Geschichte aus zwei Städten“ ging es um London und Paris, Simon richtet die Aufmerksamkeit seines Publikums auf zwei US-Metropolen, die auf dramatische Weise den Anschluss an den „american dream“ verloren haben, indem er zeigt, was dort geerbt und was dort verloren gehen kann. „Bei ,The Wire’ war kein Platz für das große ,Warum’? Warum ist die ,american city’ so bedeutsam? Es gab viele zynische Kommentare von Vorstadt-Zuschauern: Wieso ziehen sie nicht einfach weg, wer will den schon in downtown Baltimore leben?“, redet sich Simon in Rage. „Ich lebe da. Ich lebe da seit 1984, das ist meine Stadt. Ich bin ein ,Baltimoron’. 80 Prozent der US-Bürger leben in städtischen Regionen. Die Stadt gibt uns Kultur, sie gibt uns Identität. Amerika kann sich nicht so einfach von sich selbst abwenden.“

Am 12. November erscheint die erste „The Wire“-Staffel als DVD-Box auf dem deutschen Markt.