Die Hamburger Band Wilhelm Tell Me spielt heute ihre feinen Indie-Hits im Grünen Jäger. Mit im Gepäck haben sie auch ihren Ohrwurm “Oh My God“.

Hamburg. Pop lebt von der Erfindung. Zwar existieren auch Künstler, die hoch poetisch den letzten Abwasch besingen können und heftig mit der Normalität kokettieren. Doch das Hamburger Quartett Wilhelm Tell Me hält es lieber mit jener Seite des Pop, die durch Fiktion zur charmanten Weltflucht einlädt. Wer die Musiker interviewt, fühlt sich wie in einem Schelmenroman.

Das Ambiente im Café Panter in der Marktstraße ist real, in der Gegenwart: Turnböcke dienen als Sitzbänke, die erste Frühstückswelle aus dem Karoviertel rollt heran, die Kaffeemaschine röchelt. Doch für ihre Entstehungsgeschichte greift die Band gerne auf einen mehr als 500 Jahre alten Mythos zurück. Der Legende nach haben sich die vier, alle Pi mal Daumen um die 30, bei einem Uni-Seminar kennengelernt: "Der Rütlischwur und seine Bedeutung für die Konstitution des europäischen Nationalstaates" soll der Titel gelautet haben. "Bei einer wunderbaren Exkursion zum Vierwaldstätter See haben wir uns dann Wilhelm Tell Me genannt", schmückt Bassist Matthias Kranz, ein entspannter, bärtiger Sweatshirt-Typ, die Gründungsstory aus.

Ein Pop-Schwur auf historischer Schweizer Wiese klingt natürlich schöner und schrulliger als die Wirklichkeit. Und letztlich trifft das einst von den Eidgenossen beschworene Motiv der Vielfalt in der Einheit auch bestens zu auf den ideenreichen, englischsprachigen Elektro-Pop der Band.

"Eigentlich", erzählt Kranz, "hat sich Wilhelm Tell Me aber über ein Single-Portal für Musiker kennengelernt." Doch Gitarrist Frederik Deluweit, ein Schlaks mit Trendschnäuzer und Kantenbrille, findet diese Version eher "unsexy". Und er interveniert: "Können wir es nicht wenigstens Musikersuchmaschine nennen?" Fakt ist jedenfalls, dass Sänger und Keyboarder Henning Sommer schlicht eine Anzeige auf der Webseite Bandnet schaltete, als er nach Hamburg zog. Schlagzeuger Jan Ostendorf und Kranz meldeten sich. Die Chemie stimmte, weshalb Deluweit Ende April diesen Jahres flugs als Verstärkung an den Saiten akquiriert wurde.

"Das ist schon witzig, wie intensiv das alles gerade ist", sagt der Gitarrist, noch nach Worten suchend für das Tempo, das die Band vorlegt. Im Mai spielten die vier ihr erstes Konzert. Ende September begeisterte Wilhelm Tell Me mit ihrem schmissigen Sound eine feiernde, schwitzende Menge beim Reeperbahn-Festival in der Haspa-Filiale. Mit dem alten Tresor als Backstage-Raum. Und am heutigen Mittwoch treten die Herren im Grünen Jäger bei freiem Eintritt als "Band of the week" auf, einer Bierbrauer-gesponserten Konzertreihe. Ein Termin, auf den eine Tour durch Tschechien und Deutschland folgt. Mit im Gepäck haben sie ihren Song "Oh My God", dessen zartbittere Euphorie den Hörer unweigerlich hinaus zieht auf die Tanzflächen der Nacht. Beats, Brüche, Melodie und Überschwang vereinen sich da zu einem Indie-Ohrwurm erster Güte. MySpace Deutschland warf die Referenz-Maschine ordentlich an und lobte: "Two Door Cinema Club und Delphic würden für diesen Elektro-Pop-Hit töten. Ehrlich."

Um diesen akustischen Kracher zu vermarkten, gilt für Wilhelm Tell Me ebenfalls das Rütli-Prinzip der Vielfalt. "Oh My God" ist sowohl als digitaler Download als auch als gute alte Vinyl-Single zu erhalten. "Wir sind alle hoffnungslose Romantiker, benutzen Vinyl selber und haben die Platte in erster Linie für uns gemacht, weil wir das schön finden", sagt Deluweit. Ernsthaft. Ohne Pinocchio-Modus.

Und auch das Video, das die Band inmitten ausrastender Fans zeigt, verbreitet sich gerade viral im Internet. In ihrem Proberaum in Hamm, in dem gerne mal satte Riffs von benachbarten Metallbands durch die Wände dringen, entsteht derzeit zudem das Debütalbum der Kombo, das sie entweder über das eigene Label Less Apocalypse veröffentlichen wird oder bei einer Plattenfirma, die noch anklopft.

"Wenn wir schreiben, geben wir den Songs immer Arbeitstitel", erläutert Deluweit, wie die Gruppe an neue Stücke herangeht. Auch der Bandname war lediglich als Behelfsslogan gedacht, avancierte dann aber zu Höherem. Und wer jetzt kulturbeflissen den Dreiklang Wilhelm Tell, Schiller, Rütlischwur denkt, liegt einerseits natürlich richtig. Andererseits hat die Fantasie der Popartisten nach dem ersten Definitionsversuch längst wieder Salti geschlagen.

"Wir haben uns eher einen etwas gesetzteren Herrn vorgestellt, einen Briten, der im 19. Jahrhundert sehr vielsprachig unterwegs gewesen ist, dann einen Jugendfreund trifft und ihn auffordert 'Wilhelm, tell me!', um sich Geschichten erzählen zu lassen", weiß Deluweit zu berichten. Und auch die Antwort, woher die Wahl-Hamburger denn ursprünglich stammen, wird mit viel Münchhausen-Exotik vorgetragen: Der Sänger stammt aus Südafrika, der Gitarrist aus Brasilien, der Drummer ist halber Franzose, und der Bassist kommt aus einem kleinen polnischen Dorf. Oder war es doch das glamouröse Göttingen? Der norddeutschen Wahrheit entspricht jedoch: "Wir sind alle Werder-Bremen-Fans!" Das glauben wir jetzt einfach mal. Pop hin oder her.

Wilhelm Tell Me (+ Go Austronaut): heute, 20.00, Grüner Jäger (U Feldstraße), Neuer Pferdemarkt 36, Eintritt frei; www.wilhelmtellme.com