Die streitbare Katja Riemann singt Rammstein und liest Berg - “Ein Doitschlandabend“

St.-Pauli-Theater. Als Bundespräsident Christian Wulff am 4. Oktober 36 Bürger mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik auszeichnete, stand vor ihm ein interessantes Abbild des bunten Deutschlands. Geehrt wurden unter anderem Regisseur Fatih Akin, Islamwissenschaftler Josef van Ess und Herbert Wehners Witwe Greta Wehner. Ist das Deutschland? Klar.

Aber was ist Deutschland? Vielleicht hat Katja Riemann eine Antwort, die Schauspielerin, die sich am vergangenen Montag ihre Auszeichnung im Berliner Schloss Bellevue abholte - für ihr Engagement für die Menschenrechte und den Kampf gegen Kinderarmut und Kinderhandel. Denn seit einigen Monaten durchquert Riemann mit ihrem musikalisch-literarischen Programm "Friedensreich. Ein Doitschlandabend" das Vaterland.

Mutterland? Es ist jedenfalls ein Abend der Ambivalenz, der Betrachtung von Glanz- und Kehrseiten im Osten, im Westen und anderswo. Die Doppelwertigkeit liegt schon im Titel des Programms: Friedensreich. Friedensreich Regentag Dunkelbunt Hundertwasser, das Wiener Kunstgenie, "Halbjude" in der Hitlerjugend, Weltbürger und Anti-Totalitarist. Und doch Monarchist. Doitschlandabend. Mit "oi", der Ausruf-Vorsilbe aus dem Jiddischen. Dem "Obacht"-Ausdruck und Punk-Musikstil sowohl rechtsradikaler, unpolitischer und linksradikaler Skinheads. Je nachdem, mit Wenn und Aber.

Begleitet von Gitarrist Arne Jansen, Förderpreisträger von JazzBaltica, singt und liest Katja Riemann in ihrem "Doitschlandabend" über Befindlichkeiten und Befremdlichkeiten in den Theatern, Schrebergärten und Zügen zwischen Elbe und Isar. Im Mittelpunkt stehen dabei zum Beispiel die - natürlich etwas umarrangierten - Lieder von Rammstein. Schließlich sind die Berliner Rock-Radaubrüder spätestens seit ihrem Videoclip zu "Stripped" 1998 für viele in der rechten Ecke abgestellt. Dabei schlägt das Herz von Rammstein doch woanders: "Wir marschieren, aber wir sind links, absolut klar bekennend links." Es ist kompliziert.

Auch bei Riemann, der bewegten Frau in "Der bewegte Mann", der mörderischen (?) "Apothekerin", der bewegenden Couragierten in "Rosenstraße". Die zweifache Grimme-Preisträgerin zitiert nicht nur Hundertwasser, Rammstein, den schwedischen Songwriter José González und sein weibliches US-Pendant Cat Power, sondern auch Knorkator, Könige der kleinen und großen Geschmacklosigkeiten. Und sie liest Sibylle Berg, die in Weimar - Goethe! - geborene und in Zürich lebende Autorin, die als gnadenlos optimistische Kulturpessimistin gilt und mit dem kühl-geübten Blick eines Chirurgen in Wunden sticht, um zu heilen.

Es soll ein kontroverser Abend sein, toi, toi, toi! Aber mit Humor. Ausgerechnet in dem Land, in dem man zum Lachen anderen im Keller eine Grube gräbt. Sehr riskant, das Ganze, und unentschieden. In Kiel, so erzählt Katja Riemann im Interview mit der "Rheinischen Post", sei der "Doitschlandabend" mit Gelächter und großer Begeisterung aufgenommen worden. In Weimar - Goethe! - allerdings wären die Besucher reihenweise rausgegangen. Ein Top-Flop. "Erstaunlich, dass man sie mit so wenig Mitteln so dermaßen provozieren kann", erinnert sich Katja Riemann. Das ist doch schon was! Mal sehen, wie das Publikum heute im St.-Pauli-Theater reagiert.

Friedensreich. Ein Doitschlandabend: Mo 11.10., 20.00, St.-Pauli-Theater (S Reeperbahn), Spielbudenplatz 29-30, Karten ab 15,80 bis 33,40 unter T. 47 11 06 66; www.st-pauli-theater.de