Das illustrierte Mathebuch “Die Wurzel des Lebens“ ist lehrreich

Wahrhaft kluge Menschen halten sich nicht für wahrhaft klug, und wenn sie es doch tun, nur für den Anflug eines Augenblicks: Dann gebe man ihnen ein Mathematikbuch in die Hand. Am besten "Geometrie Oberstufe", gerne aber auch "Arithmetik" und "Algebra". Sie werden viel von gleichschenkligen Dreiecken, Dreisätzen, binomischen Formeln und Quadratwurzeln lesen.

Wahrscheinlich werden sie nicht tatsächlich lesen, sondern irritiert, verständnislos und auch ein wenig peinlich berührt auf verwirrend anmutende Zeichen starren. Sich sodann pikiert wieder ihrer Zeitung oder ihrem Houellebecq zuwenden, die Mathebücher leichthändig und gekünstelt-ironisch grinsend zurückgeben: "Jaja, damals im Grundkurs Mathe habe ich lieber der sommersprossigen Sonja ins zauberhafte Gesicht geguckt, als mich mit Mathematischem zu belasten." Schön, dass es Sonja gab, und schön auch, dass man sie immer noch als billige, wenn auch schöne Ausrede anführen darf. Aber tief im Innern fühlt sich der beredte Bücherwurm und Sprachenkenner, der Bescheidwisser und Kulturfex verletzt, bloßgestellt, entmachtet und auf dem Boden der Tatsachen. Die richtig Klugen sind eben doch die anderen.

Das logische Denken als Hindernisparcours, erst nach erfolgreicher Fahrt landet man im Geisteshimmel: Das ist doch die traurige Wahrheit für uns Mathemuffel. Uns kann geholfen werden, denn Clémence Gandillot hat es endlich geschrieben, das Mathebuch für Matheidioten, "Die Wurzel des Lebens" heißt es. Ein Buch mit vielen Zeichnungen, die Rechenvorgänge als zwischenmenschliche Beziehungen zwischen Männlein und Weiblein darstellen (womit wir wieder bei Sonja wären).

Die Strichmännlein führen ein Pas-de-deux der Gleichungen auf, indem sie etwa Funktionen darstellen und Vektoren, indem sie etwas über "komplexe Zahlen" erzählen. Okay, man lernt nicht wirklich etwas über Mathe in dem Sinne, dass man z=a+ib (das ist irgendwas mit Real- und Imaginärteil) in seiner buchstäblichen Komplexität begreift.

Aber das Unendliche, dargestellt als imaginäre und wirkliche Lebensfülle des (Strich-)Menschen, wird dann doch etwas schlüssiger, greifbarer. Man glaubt zu verstehen, und das ist doch immerhin etwas (eine Selbsttäuschung, sei's drum). Autorin Gandillot, 31, ist übrigens Szenografin und Bühnenbildnerin, sie lebt in Paris. Sie muss ihr Mathebuch in den dortigen Cafés ersonnen haben, es ist vielmehr ein Philosophiebuch als ein mathematisches Werk, eher ein Unterhaltungscomic als ein Lehrbuch und deshalb so kurzweilig und charmant.

Clémence Gandillot: Die Wurzel des Lebens. Übers. v. Raoul Schrott. Sanssouci. 80 S., 9,90 Euro.