Abendblatt-Krimibibliothek, Band 4: Boris Meyn erzählt von einer Stadt im Umbruch

Umberto Eco ist schuld. Als er 1982 in Deutschland seinen Roman "Der Name der Rose" veröffentlichte, markierte das den Anfang des noch immer aktuellen Booms historischer Kriminalromane. Autoren sprossen wie Wildwuchs aus den kriminalliterarischen Feuchtgebieten, Verlage kreierten neue Romanreihen, Buchhandlungen räumten ganze Regalflächen frei, um den Bedürfnissen der Leserschaft gerecht zu werden: spannende Geschichten zu lesen, die in einer vergangenen Epoche spielen. Nervenkitzel reloaded.

Was einst war, wird wieder ganz nah und verführt zum sich herausfallen lassen aus dem, was ist im Hier und Jetzt mit all seinen Problemen. Mord und Totschlag? Gab es auch damals schon. Das beruhigt. Eine Sehnsucht?

Auch in Boris Meyns Krimidebüt "Der Tote im Fleet" geht es um diese Sehnsucht, wenngleich auch um eine anders geartete. Meyn erzählt in einem Nebenstrang von dem unterschwelligen Begehren, das im Laufe der Handlung immer stärker Besitz ergreift von seinem Helden, dem Commissarius Hendrik Bischop, und der jungen, äußerst selbstbewussten Clara, Tochter von Bischops bestem Freund Conrad Roever. Ein Begehren, das natürlich im Verborgenen schlummert und sich nur in verschämten Blicken und kleinen Gesten Bahn bricht, schließlich hat Meyn seine Geschichte am Ende der Biedermeier-Zeit angesiedelt. Da rumorte es bereits mächtig unter der gesellschaftlichen Oberfläche, privat wie politisch, denn die Jahre der bürgerlichen Revolution kündigten sich an, was facettenreiche Freizügigkeit verhieß.

Doch noch war es nicht so weit, im Hamburg des Jahres 1847, fünf Jahre nach dem großen Brand, der weite Teile der Innenstadt zerstörte. Es galt, die Stadt wieder aufzubauen. Aber wie? Nach alter oder nach neuer Art? Und wie sollte das Neue aussehen? Backstein oder italienische Fassaden? Eine Frage, die die Stadt zu spalten drohte.

Dabei fängt alles ganz harmlos an in Meyns historischem Hamburg-Roman. Ein Toter wird eines Nachts aus dem Schlick des Nikolaifleets gezogen, ein Fleetenkieker hatte ihn zufällig mit seiner Stake getroffen. Bedauerlich, aber so etwas kam nun einmal vor, damals wie heute. Allein, seltsam ist es schon, was Amtsmedicus Roever dem Toten aus den Taschen zieht: zwei große Mauersteine, die so ganz anders sind als jene, die gewöhnlich in Hamburg zum Bauen verwendet werden. Gleichwohl sind es eben diese Steine, die Hendrik Bischop den Weg weisen hinein in einen Fall, dessen politische Dimensionen er auch am Ende in ihrer Tragweite noch nicht ganz zu überschauen weiß.

Der Tote im Fleet, so ergeben es Bischops Ermittlungen, war Besitzer einer großen Ziegelei in der Nähe von Husum. Dort wurden vor allem Backsteine hergestellt, und Abnehmer ihrer Produkte fand die Firma zunehmend mehr. Jedenfalls unterhielt der ermordete Geschäftsmann beste Beziehungen auch zu hanseatischen Kaufleuten. Waren die Steine in den Taschen des Toten also als eine Drohung zu deuten an all jene, die den Wiederaufbau der Hamburger Innenstadt mit Backsteinen betreiben wollten? Commissarius Bischop ist erst einmal ratlos, bis er erfährt, dass es um weit mehr zu gehen scheint als um den Aufbau der durch den Brand zerstörten Stadtteile. Kaufleute und Investoren haben es auf weit mehr abgesehen - im Fokus ihrer Interessen stehen auch die noch weitgehend unbesiedelten Gebiete außerhalb der Hamburger Stadtmauern, Hammerbrook und die Uhlenhorst.

Und Bischop macht eine weitere Entdeckung: Der ideologische Streit um die Baumaterialien hat zwei Protagonisten - die Architekten Alexis de Chauteauneuf und Theodor Bülau.

Es sind eine Reihe realer historischer Figuren, die Boris Meyn auftreten lässt - nicht nur die Architekten de Chauteauneuf und Bülau haben damals auf die Geschicke der Stadt eingewirkt. Die einflussreichen Familien Godeffroy, Merck oder Jenisch spielen ebenso eine Rolle wie die Senatoren Martin Hudtwalcker oder Theodor Dill. Historische Figuren in die Handlung seines Romans zu integrieren, das ist für den Bau- und Kunsthistoriker Meyn Konzept: Er möchte mit seinen Romanen vor allem Geschichte vermitteln, in diesem Fall Stadtgeschichte. Darin unterscheidet sich Meyn von Petra Oelker, die als Wegbereiterin des historischen Kriminalromans in Hamburg gelten darf: Oelker ist in erster Linie Erzählerin, sie stellt ihre raffiniert ersonnenen Geschichten in die atmosphärisch genau gezeichneten Kulissen des alten Hamburg, ehemals lebende Figuren spielen eine lediglich untergeordnete Rolle.

Commissarius Bischop hat in doppelter Hinsicht an diesem Fall zu knapsen. Zum einen lässt ihn die Trauer über den Tod seiner Frau, wenngleich der schon fünf Jahre zurückliegt, nicht los. Auch eine Sehnsucht, rückwärts gewandt allerdings. Zum anderen hängt er an jenem Hamburg, wie es einmal war. Ein Wertkonservativer, wenn man so will. Bei allen Veränderungen will er das, was es lohnt, bewahren. "Akzeptiere das Neue, es ist so schlecht nicht", rät ihm sein Freund Roever.

Auch die neue Sinnlichkeit kann der wackere Hendrik nicht so ohne Weiteres akzeptieren, weil sie ein wenig gegen die Konventionen steht. Denn die emanzipierte Clara ist eine junge Frau, die in Denken und forschem Handeln weit in die Zukunft weist. Doch der Commissarius kann sich nicht gegen jede schwelende Sehnsucht wehren.

Vermutlich ist es die Sehnsucht in ihren vielfältigen Spielarten, die Leser in Scharen in den Bann schlägt. Vielleicht ist es jene Sehnsucht nach einer anderen Welt, in der das Leben noch nicht so unübersichtlich war wie in der heutigen Zeit. Eine ferne Welt, die überzogen ist von einer Patina, die sie ein wenig mehr leuchten lässt, als sie es eigentlich verdiente. Historische Kriminalromane erweisen sich in diesem Wahrnehmungsfeld als überaus taugliche und meist auch ortskundige Begleiter des Lesers auf seiner imaginierten Zeitreise heraus aus den Wirrnissen der Gegenwart.

Boris Meyns "Der Tote im Fleet" ist ein solcher Roman. Er entführt in das alte Hamburg zur Mitte des 19. Jahrhunderts - und er hält es lebendig nicht nur in seinen detailgenauen Schilderungen, sondern auch indem er einen Bezug zur Gegenwart herstellt: Das heutige Modell "wachsende Stadt" und der modische Begriff der Gentrifizierung sind alte Hüte. Vergleichbare Projekte gab es bereits damals, die damit verbundenen Probleme allerdings auch.