Tom Rachmans Roman “Die Unperfekten“ ist der Nachruf auf eine Zeitung - und gleichzeitig eine zärtliche Liebeserklärung

Die schweren Kristallaschenbecher sind lange schon verschwunden, die dezente Hausbar ist den 70er-Jahren einem Wasserspender gewichen, damals, als das Nachrichtengeschäft kühler, ruhiger, sauberer wurde, als die rumpelnden Druckerpressen im Keller leiser liefen und die Zoten der "Jungs" im Newsroom immer seltener Gelächter ernteten. Viele der "Jungs", wie die Reporter in den alten Zeiten hießen, waren inzwischen Frauen. Das Büro des Verlegers steht leer, die Kabuffs der Redakteure sind ebenso verwaist, ihre Insassen pensioniert und nie ersetzt, eine Ecke des Newsrooms wird zum "Friedhof für verkrüppelte Bürorollstühle". Fünf Jahrzehnte nach ihrer Gründung hat die Zeitung aufgehört zu existieren.

Mit dem Nachruf auf eine Zeitung, seinem Romandebüt, hat Tom Rachman allein an Vorschüssen etwa so viel Geld verdient wie ein Journalist in zehn Jahren, ein erfolgreicher wie er, Korrespondent der Associated Press in Rom, Redakteur der "Herald Tribune" in Paris. Die Filmrechte hat sich Brad Pitt gesichert. Dabei ist diese Sammlung von Geschichten schon fast anachronistisch zu nennen, weil sie nämlich eine Liebeserklärung ist; und wie in allen Liebeserklärungen steckt darin auch ein wenig Hoffnung.

So erzählt Rachman, mitunter fast zärtlich und nur ein wenig zynisch, jeweils am Ende eines jeden Kapitels vom wechselnden Geschick der kleinen Tageszeitung in Rom, die ihre Gründung der Laune (und der heimlichen Liebe) des reichen amerikanischen Geschäftsmanns Cyrus Ott verdankt und ihr Ende den monetären Interessen seiner Erben und, ganz schlicht, dem technischen Fortschritt. Der ist über sie hinweggegangen, sie verfügt nicht einmal über eine Website. Der neue junge Verleger, Otts Enkel Oliver, spricht bloß mit seinem Basset, Schopenhauer genannt, dem er das Essen auf der Ausgabe vom Tag servieren lässt. Er liest sie nie.

"Amokschütze tötet 32 Studenten" ist das letzte Kapitel überschrieben, und jeder der elf pointierten Geschichten ist eine solch ironisch mehrdeutige Schlagzeile zugeordnet: dem einstigen Starreporter in Paris, dem schon lange nichts mehr einfällt und der um einer gefälschten Story willen beinahe seinen Sohn verrät; dem Nachrichtenchef, der eines Tages per Mail ein Foto seiner Freundin erhält, nackt mit einem anderen Mann. Manchmal sind diese Typen, wie es sie in jeder Zeitung gibt, zu Karikaturen entstellt, daher umso genauer getroffen: der kleinliche Korrektor, dessen Stilführer, seine "Bibel", "in etwa auf das Format des Großraums Liechtenstein" angeschwollen ist. Oder der dröhnende Kriegsreporter, der OBL schon zweimal getroffen hat, Osama natürlich, "in Tora Bora oben. Tolle Zeit".

Die böseste Pointe beschert Rachman der Finanzchefin des Blatts, Miss Buchhaltung, die auf einem Flug in die Konzernzentrale dem Textredakteur, den sie gerade hat feuern lassen, näher kommt, als ihr lieb sein kann.

Im Grunde sind dies elf short stories, manchmal parodistisch zugespitzt, manchmal nur anrührend, letztlich doch wunderbar raffiniert miteinander verwoben zu einem Kaleidoskop menschlicher Unvollkommenheit. Und zum Porträt einer Zeitung, präzise und bunt genug, die für jenes Genre par déformation professionelle besonders Anfälligen ebenso zu bestechen wie die "gewöhnlichen" Leser.

Ihnen hat Rachman seine schönste, absurdeste und traurigste Geschichte gewidmet, die der treuen Ornella de Monterecchi, deren ganze Welt, seit 1976, die Zeitung ist. Aber weil sie nie gelernt hat, wie man diese richtig liest, sondern Artikel für Artikel, Spalte für Spalte, Zeile für Zeile durcharbeitet, ist ihr die Gegenwart abhanden gekommen, und ihre Welt endet am 23. April 1994, einen Tag, bevor sie die Katastrophe ihres Lebens traf. Ausgerechnet diese Ausgabe, die vom 24. April, aber fehlt in ihrer ansonsten lückenlosen Sammlung. Und so wird sie 2007 in eine Gegenwart gezwungen, in der es die Zeitung nicht mehr gibt, die letzte Person, die den Newsroom betritt.

Diesen Ort, an dem auch Schopenhauer seine finale Vorstellung hat.