Fritz J. Raddatz' “Tagebücher“ gießen Häme über den eitlen Kulturbetrieb der 80er- und 90er-Jahre

Hamburg. Ach, was wäre die Literaturgeschichte ohne Schmähungen und Beschimpfungen! Autoren haben über einander manchmal nicht viel mehr als Gehässigkeiten zu sagen. Karl Kraus, Österreichs bedeutendster Kulturkritiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa wusste: "Warum schreibt mancher? Weil er nicht genug Charakter hat, nicht zu schreiben." Jean Cocteau schnappte über seinen Zeitgenossen Jean Anouilh: "Er hat eine neue Mätresse? Unmöglich - bei dem schläft doch nur das Publikum."

Nun ist Fritz J. Raddatz zwar auch Schriftsteller, Publizist und mehr, vorrangig jedoch war er Journalist, in den 80er-Jahren Chef des Feuilletons der Wochenzeitung "Die Zeit". Aus diesen Jahren datieren seine jetzt erschienenen "Tagebücher 1982-2001". Sie beschreiben, neben einer Bundesrepublik, in der die Politik zwar in Bonn, die Deutungshoheit aber in Hamburg lag, Zeitgenossen und Ereignisse, Freunde (es waren wenige) und Feinde (es waren reichlich). Zu lästern hat er jede Menge. Es ist ein Blick ins Innere des Intellektuellenlebens der Republik, ein nie nachlassender Strom von Bosheiten, Invektiven, eine mehr als 900 Seiten lange Fortsetzungsgeschichte über Eitelkeiten und Verkommenheiten des Kulturbetriebes, einem Kosmos von kaum mehr als 200 Menschen. Egomanen, Exzentriker, Machtmenschen und Möchte-gern-Dazugehörer. Man trifft sich zwischen Sylt, Paris, New York und Hamburg, und meist geht es um Streicheleinheiten, Rechthabereien, Aufmerksamkeit. Je mehr, desto besser.

Das liest sich gelegentlich amüsant, vor allem, wenn man anhand des Personenregisters im Anhang, die "Stellen" nachliest, jene Anekdoten und Gemeinheiten über Helmut Schmidt, Rudolf Augstein, die Gräfin Dönhoff, Gabriele Henkel, Jan Philipp Reemtsma oder Hubert Fichte. Nach einiger Zeit ermüdet aber so viel Gift und Galle über Stillosigkeit und Undankbarkeit. Und wie die Zeit über alles hinweggefegt ist, das wird auch deutlich, wenn man das Gezeter und Gespreize von damals liest. Viele der Beschriebenen sind tot oder vergessen und den Lesern dürfte es heute egal sein, dass das Abendessen bei der Gräfin Dönhoff dürftig war. Lustig zu lesen ist es trotzdem: "Die Abende bei der Gräfin sind ja immer ein Cauchemar, was das Lukullische betrifft: Ein Eiersalat mit Thunfischkonserve und rote Grütze in Suppentassen, als habe sie nicht mal Kompottschüsselchen. Dazu 3 - drei! - Flaschen Wein, jedes Mal eine andere Sorte, und hinterher Schladerer Kirschwasser...Wütend im Anschluss noch zu mir, wo wir uns auf dicke Schinkenbrote stürzten."

Dass Raddatz ein eitler Snob und Ästhet ist, der sich immer wieder wundert, "warum ich so verhasst bin", ist oft beschrieben worden. Zitieren wir also lieber ein paar Stellen.

Im Januar 1985, als Günter Grass und seine Frau Ute ihn nach Portugal eingeladen hatten, schreibt Raddatz: "5 Tage in dem bestürzend primitiven Haus von Grass an der Algarve, kein Strom, keine Heizung, kein Telefon, Wasser knapp, unbequeme Möbel, kein einziger Sessel im Haus, kein Sofa, kein Liegestuhl...Frühstück am Klapptisch mit Hockern (!) und abends eine Wärmflasche ins Bett...Ute, der gute Geist, freundlich, lieb, ständig zur Stelle ("Ute, was steht da? Ute, wie heißt diese Grafik?") - warum tun Frauen das?" Und kurz vorher: "Ute, die todunglücklich ist. Er betrügt sie an jeder Ecke."

Rudolf Augstein ist bei ihm "ein größenwahnsinniger Zwerg", bei Klaus von Dohnanyi ist ihm "nicht klar, ob er mir nicht 'eigentlich' unsympathisch ist". Von Raddatz besonders verachtet wird "der vollends grausliche Marcel Reich-Ranicki, der buchstäblich nicht ein Wort, nicht einen Satz über ein Buch, ein Gedicht, irgend einen Inhalt reden kann; es geht nur um Literaturklatsch". Bitterkeit und Häme sprechen aus vielen Beobachtungen. Doch oft auch ein Quäntchen Wahrheit.

Der Kulturbetrieb, so wie Raddatz ihn beschreibt, ist untergegangen. Wer wissen will, wie's war, sollte diese Tagebücher lesen.

Fritz J. Raddatz "Tagebücher 1982-2001", Rowohlt-Verlag, 938 S. 34,95 Euro; Raddatz liest, Mo, 27.9., Rolf-Liebermann-Studio, Oberstr. 120, 19 Uhr