Hamburg. Könnte man Lippen lesen, wüsste man zuverlässig, was Michael Gielen dem Konzertmeister des NDR Sinfonieorchesters, Roland Greutter, zuraunte, als ihn das Publikum nach dem Saisonstart mit Mahlers 9. Sinfonie zum vierten Mal auf die Bühne der Laeiszhalle zurückgejubelt hatte. Gielens Körpersprache und Mimik ließen sich etwa so übersetzen: Jedes Mal, wenn ich nach Hamburg komme, geraten die Leute mehr außer Rand und Band. Keine Ahnung, warum das so ist, ich mach doch nichts anders als früher. Aber schön ist es!

Tatsächlich war die Aufführung dieser verzweifelt lebensbejahenden Weltentsagungssinfonie trotz kleiner Koordinationsmängel in den Mittelsätzen ein Ereignis. In all ihrer Maßlosigkeit - Gielen ließ sich gut anderthalb Stunden für das Werk, das andere in 80 Minuten bewältigen zu können glauben - birgt die Musik als eine Art Klang gewordene Seufzerbrücke vom 19. ins 20. Jahrhundert fast etwas Seherisches. Gielens analytischer, den Jammerton nie forcierender Zugriff legte immer wieder das Über-Individuelle frei.

Gut vorstellbar, dass die kleinen Widerhaken in der gespenstischen Fuge des dritten Satzes bei noch zwei Proben mehr ganz verschwunden gewesen wären. Dafür gelang so vieles andere in bewegender Genauigkeit. Die zweiten Geigen reizten das von Mahler vorgeschriebene "sehr derbe" im zweiten Satz bis zur Grobheit aus. Auch die Übersteuerungen der Blechbläser in diesem fratzenhaft grellen Satz klangen schlüssig. Erst der kein Ende findende vierte Satz zeigte den zuvor bis zur Schroffheit kühnen Komponisten als einen, der fast um Harmonie bettelt - und doch weiß, dass sie hier nirgends zu bekommen ist. Grandios zaghaft in die Stille hineintastend geriet das Moriendo des Finales.