Die Deichtorhallen ehren den Dokumentarfotografen Paul Graham mit einer großen Retrospektive

Haus der Photographie. Es war ein Schock, der heute kaum noch nachvollziehbar ist. In Farbe, nicht im klassischen Schwarz-Weiß hatte sich Paul Graham Anfang der 80er-Jahre sozialer Dokumentarfotografie angenähert. Quer durch England, durch Irland oder Europa zog es den jungen Briten, um am Ende seiner Reisen farbiges Material auf den Tisch zu legen. Ein Kleinkind in Pink im Behörden-Grau, ein Soldat vor dem Hintergrund grüner irischer Landschaft. Hätte das nicht harte Schwarz-Weiß-Kontraste erfordert?

Fotografen alter Schule waren alles andere als amused. Doch heute ist Farbe allgemein akzeptiert und Paul Graham, Jahrgang 1956, als einer der wichtigen Erneuerer der sozial engagierten Fotografie anerkannt. Das Haus der Photographie ehrt ihn von heute an mit einer großen Retrospektive, mit zehn Werkgruppen aus den Jahren 1981 bis 2006, über 145 Fotografien.

Das Fehlen klassischen Schwarz-Weiß macht zunächst ratlos. Wo nicht das Elend der Welt in einem Moment zusammengefasst ist, wo das Drama der Kontraste verschwindet, da ist auch das enge Schwarz-Weiß-Denken kritischer Dokumentarfotografie Fehlanzeige. Beispiel die Serie "Beyond Caring", in der Graham Situationen in Londoner Arbeitsämtern festhält. Entstanden ist sie zwar in der Thatcher-Ära, aber Graham hält sie fern von zu eindeutiger Anti-Regierungs-Positionierung. Der Fotograf konzentriert sich mehr auf die Langeweile, das sinnlose Ausharren der Individuen, auf die Lieblosigkeit der Räume. Es sind Situationen der Perspektivlosigkeit, wie sie sich ähnlich auch in anderen Ländern und zu anderen Zeiten ereignen.

Graham ist weder Foto-Journalist noch Auftragskünstler. Graham nimmt sich politische, soziale oder ganz alltägliche Aspekte zum Ausgangspunkt für komplexe Sachverhalte. Auf subtile Weise erzählen seine Fotos mehr über das Leben der Individuen, als dass sie versuchen, sozial-gesellschaftliche Verhältnisse auf die Anklagebank zu setzen. Beispiel die Serie "Television Porträts". Schon viele Fotografen haben sich daran abgearbeitet, Menschen beim TV-Konsum abzulichten, um damit der Mediengesellschaft ihre Fratze entgegenzuhalten. Ihre Versuche resultieren meistens in dämlichen, übersteigerten oder komischen Gesichtsmimiken. Bei Graham verhalten sich die Menschen hingegen fast meditativ, wirken konzentriert, eingebunden in einen Dialog zwischen Medium und Mensch, den der Außenstehende allenfalls als Voyeur miterlebt.

Während Graham zu Beginn seiner Karriere die Perspektive suchte, nicht aber ins Bild eingriff, zeichnen sich spätere Serien auch durch bewusste Stilisierungen aus. In "American Night" konfrontiert er großformatige Bilder gesichtsloser amerikanischer Vorstädte mit Einzelaufnahmen standardisierter Eigenheime. Der optische Unterschied aber besteht in einer extremen, ins Vernebelte gehenden Überbelichtung der Vorstadt-Motive, dem die Eigenheime wie protzende Abziehbilder aus Hochglanzkatalogen gegenüberstehen. Mit "Ceasefire" verlässt Graham ganz den Boden, um ausschließlich dunkle Wolken ins Bild zu rücken, Anklänge an eine Malerei, die das irdische Drama im bewegten Schauspiel des Himmels suchte.

Eines sind Grahams Bilder alle nicht: spektakulär. Die Menschen in seinen Bildern sind still, nachdenklich oder getragen von innerem Zweifel und Leiden. Soziale Brennpunkte verweben sich in ihnen mit philosophischen Betrachtungen über den Fluss des alltäglichen Lebens.

Und so gibt es auch "Hoffnungsschimmer" in Form von "shimmer of possibility", Titel der jüngsten Serie Grahams. Darin beobachtet Graham Individuen beim Bewältigen ihres zuweilen grauen Alltags, der dennoch die Möglichkeit von Handeln und Bewegung in sich birgt.

Das ist nicht viel, aber für eine sozial engagierte Fotografie das Signal für innere Umkehr. Behutsam setzt sie auf Ermutigung des Individuums statt auf die klassischen Schwarz-Weiß-Mittel von Entlarvung und Kritik.

Paul Graham - Fotografien 1981-2006 Haus der Photographie, 24. September bis 9. Januar 2011