Die Reeperbahn ist mehr rotes Tuch als rotes Licht, nervig und geschäftstüchtig, umstritten und schrill. Und doch zieht es uns zum Kiez.

"Reeperbahn, ich komm an. Du geile Meile, auf die ich kann", sang Udo Lindenberg 1989 und war nicht der Einzige, den es auf den Kiez zog. Auch wir trieben uns in den 90ern jede Woche zwischen Millern- und Nobistor, Molotow und Mojo Club herum. Provinziell unterfeiert, wie man war, nahm man alles mit, man ging sogar gesetzlich krankenversichert zu irgendwelchen Abi-Partys ins Docks. Nur der Elbschloss Keller am Hamburger Berg war tabu. Warum auch immer.

Der Kiez war jedenfalls mit Anfang 20 eine tolle Sache, wenn man aus dem Nachtsterben von Bargteheide per altgedientem, aus dem letzten Loch schlurchenden Mercedes-Diesel in das Nachtleben auf die berühmtesten, berüchtigtsten 930 Meter Hamburgs einbog. Die Schaufenster schienen abwechslungsreich (Messer ... Pistolen ... Dildos ... Messer ... Pistolen ... Dildos), gespeist wurde beim "Amerikaner", die Davidstraße wurde auf der falschen Seite (die mit dem 80er-Skimoden-Laufsteg) entlangspaziert. Die Touristenmassen, durch die man sich schob, waren sichtbares Zeichen einer Weltstadt, Schnorr-Punks bekamen eine Mark und der Tätowierer für langweilige Katalogware ("Zweimal das Tribal Nr. 65, bitte") 350 Mark. Dem Heiteren erscheint die Welt auch heiter.

Wenn man heute, längst in Hamburg lebend, mit Konzert- und Partyveranstaltern, Künstlern, Musikern oder Labelbetreibern spricht, scheint "Reeperbahn" kein rotes Licht, sondern ein rotes Tuch zu sein. Klaus Voormann, Beatles-Freund seit 1960, Grammy-Gewinner und Lennon-Bassist, brachte es im Gespräch vor einem Jahr stellvertretend und richtig auf den Punkt: "Der Kiez von heute ist scheiße." Er lebt jetzt im Umland von München.

Ja, die Reeperbahn ist die Yoko Ono unter Hamburgs Straßen. Schrill, überambitioniert, geschäftstüchtig. Unglaublich nervig. Die Adressen mit den längsten Schlangen sind heute die Esso-Tankstelle, Lidl und Penny. Dort bevorraten sich die nicht mehr zu zählenden Junggesellenabschiede und Schnorr-Punker. Klubadressen, die man guten Gewissens auch in von Berlinern gelesene Reiseführer schreiben kann, sind rar geworden. Wo einst Nächte zu Tagesanbrüchen wurden, wurde und wird nun Endoklinik-sterilisiert, gentrifiziert und musicalisiert. "Da hilft nichts auf der Welt, wenn dir St. Pauli auf den Geist fällt", sangen die Sterne.

Es ist wie mit der Liebe: Junge aus dem Umland wird geblendet von den Verlockungen, entdeckt immer mehr Entzückendes, dann Erschreckendes. Angezogen, abgezogen und angewidert. Unter der Glitzerschminke ist die Reeperbahn eine alte Vettel, die man schon am Geruch erkennt. Und mit jedem Hotel-Neubau, jedem Loft spritzt sich das Biest mehr Botox, der Geist aber welkt.

Es ist aber nicht so, dass die Dame sich selber überlassen wird. BNQ und No BNQ, Investoren und Senatoren, Geldscheffler und Kulturschaffende verwalten, verweigern, entstellen und gestalten eine ganz klar unklare Zukunft. Auch um gegen den Strom zu schwimmen, braucht es einen Fluss.

180 Junggesellenabschiede oder 180 Bands beim Reeperbahn-Festival? Es gibt viele richtige und falsche Entscheidungen auf dieser langen, verwundernden Straße, genau wie der Abgesang auf die Reeperbahn so alt ist wie ihre Mythen. Bereits elf Jahre vor seiner Hymne "Reeperbahn" hatte Udo eine Single mit dem gleichen Titel, aber einer anderen Perspektive: "Reeperbahn, wenn ich dich heute so anseh, Kulisse für 'n Film, der nicht mehr läuft, ich sag dir, das tut weh."

Nur wer seinen Kiez liebt, schiebt Frust. Und daher ist diese Meile so scheiße und geil. Schrill, überambitioniert, geschäftstüchtig. Unglaublich nervig. Kreativ, überraschend und ihrer Zeit oft voraus. Wie Yoko Ono.