Ist Palmas 700-Seiten-Buch historischer Roman, fantastische Geschichte oder Lovestory? Die Kombination jedenfalls ist das, was Vielleser lieben.

Ist Félix J. Palma der neue Carlos Ruiz Zafon? Soll Palmas Roman "Die Landkarte der Zeit" an den Welterfolg seines nur vier Jahre älteren spanischen Landsmannes anknüpfen, der mit "Der Schatten des Windes" seit 2001 Millionen Buchkäufer fand, 2,5 Millionen davon allein in Deutschland? Man könnte den Eindruck bekommen, wenn man die Vorankündigungen für "Die Landkarte der Zeit" sieht, mitsamt ihren Anspielungen auf das Magische, das den Roman des Spaniers in die Sphären des Ungewöhnlichen, Übernatürlichen heben soll.

Liest man Palmas Buch dann, stellt man fest, dass dieser mehr als 700 Seiten dicke Roman über viele Zutaten verfügt, die in den vergangenen Jahren dafür sorgten, dass aus einer Geschichte ein Bestseller wird: Er spielt mit dem Historischen ebenso wie mit dem Fantastischen, könnte aber auch ein Liebesroman sein, drei Kategorien, die Vielleser lieben. Das Buch besteht aus drei miteinander verwobenen Geschichten, die in der Zeit des viktorianischen London spielen und in denen der Autor H. G. Wells eine wichtige Rolle übernimmt. Er wird gebeten, einige merkwürdige Ereignisse zu untersuchen, die im Zusammenhang mit einer Maschine für Zeitreisen passiert sind. Denn - und das ist die eigentliche Geschichte des Romans - der Wunsch, sein eigenes Leben anderswo noch einmal neu leben zu können, in einen anderen Raum und eine andere Zeit wechseln zu können, dieser uralte Menschheitstraum bildet die Grundsubstanz des Erzählten.

In der ersten Geschichte soll H. G. Wells das Leben des Aristokraten Andrew retten, der unsterblich in eine ermordete Prostituierte verliebt war und der sie bei einer Zeitreise in die Vergangenheit wieder ins Leben zurück und wohl auch für sich gewinnen möchte. In Geschichte Nummer zwei soll Wells für eine junge Frau, die sich langweilt und den gesellschaftlichen Zwängen ihrer Zeit zu entkommen hofft, ihren Liebhaber wiederfinden, den sie in der Zukunft vermutet. Diesem wiederum hilft er beim Verfassen von Liebesbriefen an sie. Und Wells muss in der dritten Geschichte sein eigenes Leben retten, denn ein mörderischer Plan, der ebenso Henry James und Bram Stoker im Visier hat, will die drei Autoren vernichten. Lauter Merkwürdigkeiten also.

Nur ein zwielichtiger Bibliothekar kennt das Geheimnis der titelgebenden Landkarte der Zeit. Nur er kann beantworten, ob es die Zeitreisenden wirklich gibt oder ob alles auf einer trickreichen Illusion beruht. Wäre da nicht Inspektor Garrett, der einen Mörder jagt, der seine Opfer mit Waffen tötet, die noch gar nicht erfunden wurden. Was verwirrend klingen mag, liest sich dennoch wie ein Schmöker. Wenn man sich auf Geschichten einlassen mag, die weniger an reale Konflikte erinnern, sondern für die man eine rege Fantasie benötigt, die bereit ist, das Unwahrscheinliche für wahrscheinlich zu halten. Und die zwischen den Zeitebenen, den Umständen und den Personen hin- und hermäandert. Sich in lauter Parallelwelten auffächert.

Science-Fiction, Krimi, Amour fou, Historienschinken, Gothic Novel - das Buch bietet aus jedem Genre etwas, das Leser von Erfolgsromanen ansprechen könnte. Vielleicht ist es aber auch ein bisschen zu viel. Schnell wird man ins Geschehen hineingezogen. Aber ein - inzwischen auch auf Deutsch gern so bezeichneter - Pageturner, der permanent mit unseren Erwartungen, Illusionen und Träumen spielt, mit uns durch Zeit und Raum eilt, um uns zwischenzeitlich eine Nase zu drehen und "ätsch, reingefallen, ist alles nur Spiel" zu signalisieren, der ermüdet irgendwann, weil man nichts mehr glauben kann, weil nichts mehr so ist, wie es scheint.

Ob es nun Andrew ist, der vom Landsitz seiner Familie in die schmuddeligsten Gegenden Londons zu einer Hure stolpert und der dann irgendwann auf Jack the Ripper trifft (Geschichte Nr. eins). Oder ob es sich um Claire handelt, die sich von einer schäbigen Maschine ins Jahr 2000 katapultieren lässt und dort ihr großes Glück zu finden meint - stets wird man beim Lesen das leise Gefühl nicht los, man sei mitten in einem Kolportageroman, würde sich also bei nicht allzu hohem literarischen Anspruch allzu leicht der Spannung hingeben. Noch bevor der dritte Teil Fahrt aufnimmt, hat man dann auch das Geheimnis der Zeitreisen durchschaut, mit der die Firma "Zeitreisen Murray" ihre Kunden verblüfft.

Da hilft es dann auch nichts, dass wohl jeder Mensch sich schon mal gewünscht hat, etwas in der Vergangenheit korrigieren zu können, wenn er nur noch einmal dorthin zurück könnte. Oder etwas in der Zukunft erkennen zu können, das für sein Leben entscheidend ist. Auch wenn es nicht die Lottozahlen sind.

Aber das Personal dieses Romans bietet nicht genügend Identifikationspotenzial, als dass es stellvertretend diese Sehnsüchte für uns aus- und erleben könnte. Wie Menschen sich Ende des 19. Jahrhundert das Jahr 2000 vorstellten, das ist eine schöne Spielerei. Für uns ist es jedoch schon Teil der Vergangenheit.