Unter anderem für die Fans von John Irving, denen die letzten Bücher des Meisters zu ausschweifend waren, gibt es eine neue Perspektive: Maile Meloy heißt die junge Autorin, die in diese Fußstapfen passt. Eine Kurzgeschichtensammlung von ihr wurde 2009 von der "New York Times Book Review" in die Reihe der "10 besten Bücher 2009" gewählt. In "Tochter einer Familie" liefert sie uns einen Familienroman, der ganz in unserer Zeit spielt. Die Geschichte klingt unspektakulär, aber es ist schon jetzt eines meiner Lieblingsbücher in diesem Herbst. Die junge Abby schreibt einen Roman, der von ihren Verwandten mit Spannung erwartet wird. Als er erscheint, suchen alle nach just der Figur, in der sie sich wiederfinden. Dabei wird die gesamte Familie durchgewirbelt. Man glaubt ja nicht, wie viele streng gehütete Geheimnisse innerhalb von Familien auf engstem Raum Platz haben. Abby hat zwar alles verfremdet und betont tapfer, es sei nur ein Roman, aber die Eingeweihten können sich mühelos erkennen.

Ich habe mich oft bei Romanen, etwa von Martin Walser, gefragt, welche Bomben Veröffentlichungen in Familien zünden. Hier wird das gekonnt, mit Süffisanz, Ironie und Furchtlosigkeit durchgezogen. Immerhin geht es ja innerhalb der Familie auch sonst nicht zimperlich zu. Als Kind wurde Abby bei der Großmutter abgeliefert, als ihre Mutter verreisen wollte. Die Großmutter betrachtet dieses grüblerische, über die Beziehung der Eltern trauernde Kind und denkt seufzend: Mit einem anderen Ehemann der Tochter gäbe es zwar keine Abby, aber es gäbe ein anderes Kind - ein fröhlicheres Kind - und eine Ehe, die nicht zum Scheitern verurteilt war. Was für ein unglaublich brutaler Gedanke. Yvette Santerre, als Großmutter sozusagen Familienoberhaupt, ist sehr christlich und ansonsten eine wundervolle Frau. Und fest steht: Wir anderen wollen alle Abby durch kein fröhlicheres Kind eintauschen. Nur Familienangehörige können so richtig gemein und herzlos zueinander sein. Weil sie sich eben doch lieben.

Maile Meloy: "Tochter einer Familie". Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner. 384 Seiten. Kein & Aber Verlag. 22,90 Euro In "Aufgeblättert" stellen im Wechsel Rainer Moritz (Literaturhaus); Annemarie Stoltenberg und Wilfried Weber (Buchhandlung Felix Jud) Bücher vor.