Vor 150 Jahren starb Schopenhauer. Philosoph wurde er, weil er nach einer Jugend in Hamburg der Stadt schließlich den Rücken kehrte.

Hamburg. Die Philosophie des Arthur Schopenhauer ist oft eine pessimistische genannt worden, sein bekanntester Satz lautet: "Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will." Die Verneinung als Wesenszug ist der Ausgangspunkt in Schopenhauers Leben, das heute vor 150 Jahren in Frankfurt am Main endete.

Schopenhauer, 1788 in Danzig geboren, zählt zu den Meisterdenkern, die die deutsche Philosophie in den nachkantischen Blütejahren des Idealismus und der Romantik hervorbrachte: neben Fichte, Schelling, Hegel, Feuerbach. Schopenhauer sollte freilich erst nach seinem Tod berühmt werden; dieser "rationalste Philosoph des Irrationalen" (Thomas Mann) war lange Zeit so ziemlich als Einziger begeistert von seiner geistigen Bedeutung. Und so, wie man als Normalleser erst seinen Weg in das Werk eines Philosophen finden muss, musste der Kaufmannssohn Schopenhauer erst seinen Weg aus dem Handelskontor des Vaters finden.

Heinrich Floris Schopenhauer entstammte einem Danziger Großkaufmannsgeschlecht, man war in der alten Hansestadt immer stolz auf seine Unabhängigkeit. Aber als Danzig zur Verhandlungsmasse zwischen Russen, Preußen und Habsburgern wurde, entschied sich der Danziger Patriot für den Umzug nach Hamburg. Als die Schopenhauers dort im Frühjahr 1793 ankamen, erlebt die Stadt gerade einen Boom. Der Handel mit England lief außerordentlich gut, und die Zahl der Einwohner und Schiffe wuchs unaufhörlich. Die Familie zog in die Altstadt, in den Neuen Weg 76, und später dann in ein größeres Haus am Neuen Wandrahm 92, in das Quartier der Hamburger Dynastien Jenisch, Sieveking und Westphalen. Wohn- und Geschäftsbereich befanden sich im selben Haus, nach hinten grenzte das Gebäude an den Kanal. Napoleonflüchtlinge brachten damals französische Vaudevilles und Revuen nach Hamburg: Für einen Augenblick hatte Hamburg Kultur.

Aber nicht lange, und Hamburg prägte wieder "die Verlust und Gewinn wägende, den Nutzen berechnende Geistesart, die Hamburg als Handelsstadt so groß gemacht und als Stätte der Kultur doch recht unbeträchtlich hat bleiben lassen", wie Rüdiger Safranski in seiner vorzüglichen und in diesem Jahr neu aufgelegten Biografie ("Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie", Hanser) schreibt. Er könnte sich ins Hier und Heute verirrt haben.

Arthur Schopenhauer sprach in seinen späteren Niederschriften oft von Einsamkeit und Verlassenheit, die er in seinen frühen Hamburger Jahren gespürt habe. Seine ehrgeizige Mutter Johanna, die nachmalige Verfasserin von Reisebüchern und sentimentalen Romanen, gab Gesellschaften, später, nach dem Tod ihres Mannes, zog sie nach Weimar, wo sie regelmäßig mit Goethe zusammentraf. Ihr Sohn wurde bereits im Alter von neun Jahren nach Le Havre geschickt. Zwei Jahre lebte Schopenhauer bei einer Gastfamilie, er genoss diese Zeit. Nach seiner Rückkehr wurde er in die Privaterziehungsanstalt des Johann Heinrich Christian Runge gesteckt: Aus Arthur Schopenhauer sollte ein manierlicher, weltläufiger Kaufmann werden.

Weshalb der Halbwüchsige sich folgerichtig als Hauptfigur in einem existenziellen Drama wiederfand. Er musste sich entscheiden zwischen der Welt und den Büchern, zu Letzteren fühlte er sich hingezogen. Aber der Vater wünschte naturgemäß, dass er in seine Fußstapfen tritt und eine Lehre macht: beim renommierten Kaufmann und Senator Martin Johann Jenisch. Schopenhauer stellte seinen Sohn vor die Wahl: Entweder er bleibt in Hamburg und geht aufs lateinische Gymnasium, oder er begleitet die Eltern auf eine ausgedehnte Bildungsreise durch Europa.

Arthur Schopenhauer, dessen Reisefreude Christoph Poschenrieder unlängst in seinem amüsanten Roman "Die Welt ist im Kopf" (Diogenes) beschrieben hat, entschied sich für die Reise, um hernach im Kontor die Schmerzen eines Häftlings zu spüren.

Die Welt der Wechselbriefe war nicht seine, und so befreite ihn die Mutter nach dem Tod des Vaters. Er musste nicht Kaufmann werden, nicht in Hamburg bleiben. Denn diese Stadt war nicht gemacht für einen wie ihn, weshalb wir den Philosophen Schopenhauer der Tatsache zu verdanken haben, dass er Hamburg 1807 den Rücken kehrte. Schopenhauer lebte in Weimar, Göttingen, Dresden, Berlin, Mannheim und Frankfurt, und wahrscheinlich haben schon immer viele gedacht, die etwa an Schopenhauers, vorsichtig ausgedrückt, skeptischer Haltung gegenüber den Frauen Anstoß nahmen, er hätte lieber bleiben sollen in der nüchtern rechnenden Handelsstadt.

Man braucht nicht die Frage zu stellen, wie modern oder interessant das Denkgebäude Schopenhauers heute noch ist; wer gerne seine Hirnwindungen entlang von Begriffen wie "Welt", "Wille" und "Vorstellung" (wie im Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung") ordnet, der dürfte Wegweiser bekommen. Sein Einfluss auf Literatur und Philosophie war groß, seine banal klingende Erkenntnis, dass die Welt ohne die eigene Wahrnehmung nicht existiert und jeder Handlung ein Wille zugrunde liegen muss, bahnbrechend.

Trotzdem war die Welt für Schopenhauer ein "Jammertal", ein metaphysischer Überbau (Gott!), in den man sich retten konnte, nicht in Sicht. Schopenhauer war der "Philosoph des Säkularisierungsschmerzes" (Safranski), des Menschen Wille rastlos und nicht zu befriedigen. Der Wille Schopenhauers machte ihn zum Philosophen, nicht zum Kaufmann.