Andrea Arnolds wahrhaftige Milieustudie “Fish Tank“ ist als Preview im Abaton zu sehen

Abaton. Die Karriere von Katie Jarvis begann mit einem Streit. Da wusste das damals 17-jährige Mädchen allerdings noch nicht, dass es ein paar Wochen später vor einer Filmkamera stehen und in einem später preisgekrönten Film mitspielen würde. Lautstark bepöbelte Katie sich auf einem Vorortbahnhof von London mit ihrem Freund. Eine Casting-Agentin bemerkte die Auseinandersetzung und lud Katie zu einem Vorsprechtermin ein, ohne sich jedoch viel Hoffnung zu machen, dass der Teenager wirklich erscheinen würde. Denn Katie war viel zu wütend, um über eine Filmrolle nachzudenken.

Doch ein paar Tage später stand sie in der Tür des Tanzstudios, in dem die Auditions stattfanden. Schüchtern und unschlüssig, ob sie wirklich vorsprechen sollte. Vortanzen wollte sie schon gar nicht. "Kann ich nicht", war ihr lapidarer Kommentar. Doch Regisseurin Andrea Arnold überredete sie, sich in einem leeren Raum allein mit einer Kamera aufzunehmen. Katie Jarvis willigte ein, die Hauptrolle in "Fish Tank" gehörte ihr. Andrea Arnold suchte für ihren zweiten Spielfilm genau so ein Mädchen wie Katie Jarvis es repräsentierte: hübsch, aber nicht schön, ausgestattet mit einer brodelnden Aggressivität, mit Stolz und Verletzlichkeit, die sie hinter ihrer ruppigen Art verbirgt.

"Fish Tank" ist die Geschichte von Mia, die in einem herunter gekommenen Kaff an der Mündung der Themse zusammen mit der jüngeren Schwester (Rebecca Griffin) und ihrer Mutter Joanne (Kierston Wareing) aufwächst. Sie leben in einem Apartment in einer Wohnsiedlung, in der die Leute nicht auf Rosen gebettet sind und intakte Familien eher die Ausnahme als die Regel sind. Mia ist ein Produkt dieses Milieus aus Armut, Arbeitslosigkeit und emotionaler Kälte. Sie ist von der Schule geflogen, liegt im Dauerstreit mit ihrer Mutter, sie hat keine Freundinnen, und ihre freche Schwester geht ihr ebenfalls auf den Keks. Ihre Miene erhellt sich nur, wenn sie in einem leer stehenden Haus ihren Gettoblaster laut dreht und allein und selbstvergessen zu Hip-Hop- und Neo-Soul-Nummern tanzt.

"Fish Tank" ist nach "Red Road" der zweite lange Spielfilm von Andrea Arnold. Begonnen hat die 1961 in Kent geborene Schauspielerin ihre Regie-Karriere erst vor gut zehn Jahren. "Ich habe mich vorher nicht getraut" sagt sie. 2003 erhielt sie für ihren dritten Kurzfilm "Wasp" bereits einen Oscar, "Red Road", 2006 erschienen, und "Fish Tank" wurden jeweils mit dem Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet.

Arnolds Kino steht in der Tradition von Ken Loach. Sie hat einen messerscharfen Blick für das Milieu der englischen Unterschicht in ihren trostlosen Wohnblocks. Allerdings filmt sie diese Siedlungen nicht in düsteren Tönen, fast immer scheint bei ihr die Sonne. "So wohnen normale Leute", sagt sie. "Die Leute sind nicht reich, aber warum sollen sie nicht in hellen Wohnungen leben?"

Für Mias Mutter scheint die Sonne aufzugehen, als sie den attraktiven Connor (Michael Fassbender) kennenlernt und ihn mit zu sich nach Hause nimmt. Connor hat einen Job, ein großes Auto, ihre trostlose Zeit als alleinerziehende Mutter scheint zu enden. Mia betrachtet den Fremden mit Misstrauen und begegnet ihm mit ihrer schroffen Art. Doch Connor lässt sich von ihrer abweisenden Haltung nicht einschüchtern. Er ist freundlich zu dem Mädchen, das seinen Gefühlen nicht traut. Zwischen dem Geliebten der Mutter und Mia entsteht eine Beziehung, in der die Grenzen eigentlich klar sind, in der es aber ordentlich knistert. Bis Connor eine Grenze überschreitet und sich das junge Mädchen zum Feind macht.

Andrea Arnold hat eben nicht nur den Blick für die richtigen Bilder, sondern auch ein genaues Gespür für die Verstrickungen ihrer Figuren. Das macht "Fish Tank" zu einem wahrhaftigen Film, weil er dem Zuschauer kein Unterschicht-Milieu vorgaukelt, wie das Doku-Soaps im Fernsehen tun. "Fish Tank" ist eine spannende Geschichte wie aus dem wirklichen Leben. Durch die Laiendarsteller Katie Jarvis und Rebecca Griffith erhält er eine eindringliche Authentizität. Es scheint, als würden beide das Milieu genau kennen, das sie vor der Kamera darstellen sollen. Katie Jarvis' junge Karriere liegt wieder etwas auf Eis: Die inzwischen 19-Jährige ist Mutter geworden.

Preview: Fish Tank (OmU) heute, 19.30, Abaton (Metrobus 4,5); Allende-Platz 3, Karten 7,50; Internet: www.fishtankmovie.com