Vladimir Sorokins Kurzerzählungen in “Der Zuckerkreml“ sind systemkritisch und trotzdem wunderbar amüsant

Vor rund vier Jahren erschien in Russland Vladimir Sorokins Roman "Der Tag des Opritschniks" - eine Anti-Utopie, in der Sorokin ein teils futuristisch, teils archaisch anmutendes totalitäres Gesellschaftssystem für das Jahr 2027 entwirft. Die Satire auf das Land unter Putin, aus der Sicht eines monströsen Sicherheitspolizisten erzählt, wurde in seiner russischen Heimat schnell zum Kultbuch - zum Entsetzen des Autors jedoch nicht nur unter seinen liberalen Landsleuten. Auch Kreml-Beamte lobten die Realitätsnähe und Verweise auf martialische "altrussische" Bräuche, und Vertreter neoimperialer Strömungen bezeichneten sein Buch als prophetisches Werk.

Nun ist der Folgeband auf Deutsch erschienen. "Der Zuckerkreml" enthält 15 provokante Kurzerzählungen, die allesamt sehr drastisch und plastisch das oben genannte System, dieses Mal von unten, beleuchten. Es ist eine Gesellschaft, die von Angst, Überwachung und selbstverständlicher Gewalt, von Korruption und Massenarmut, von Technologie- und Arbeitskräfte-Importen aus asiatischen Ländern und einer seltsamen Moral geprägt ist.

Der Staat braucht Geld und hat angeordnet, Gas zu sparen. Darum heizen auch gut situierte Moskauer mit Holz. Häuser von Leuten, die keine Schutzgelder zahlen wollten, werden niedergebrannt. Kinder kneten Ziegel für eine große russische Mauer, die das Land zu China hin abschirmen soll; gen Westen hat es sich längst abgeschottet. Und daran, dass die Mauer nicht fertig wird, sind die inneren und äußeren Feinde schuld, lernen die Kinder. Lenin und Marx sind kaum mehr bekannt. Und wenn der Narr des Gossudaren - eine Mischung aus Zar und Präsident - die Zukunft voraussagt, glauben ihm alle.

Der Leser begleitet Kinder, Hofnarren, Folterer, Zwangsarbeiter, Bettler, Prostituierte und Dissidenten ein Stück auf ihrem Lebensweg. Es ist Weihnachten im Jahr 2028. Die elfjährige Marfuscha kommuniziert per "Hallophon", das an ihrem Ohrläppchen hängt, und steht täglich Schlange, um Grundnahrungsmittel zu kaufen. Für sie ist es ganz normal, dass ihre Eltern Wodka und Koks konsumieren, wenn sie genug Geld haben. Am Weihnachtstag geht sie mit anderen Kindern zum Roten Platz mitten in Moskau, wo Päckchen mit Zuckerkremln an Luftballons vom Himmel schweben.

Der Zuckerkreml, ein Abbild des echten Kreml aus reinem Zucker und eine nationale Leckerei, taucht in jeder Erzählung auf. Er ist das Trostpflaster in einer ansonsten grauen und grausamen Welt. Ständig wird jemand geschlagen, verprügelt, ausgepeitscht, in Lager abtransportiert, umgebracht. Man erträgt das System meist stoisch, duckt sich, hat sich ergeben. Wer die Kraft dazu hat, reißt derbe Witze oder schleckt an einem Stück Zuckerkreml.

Vladimir Sorokin schafft eine dichte Atmosphäre aus Beklemmung und Galgenhumor. Seine volkstümliche Sprache und viele Bilder, die er für die Unterdrückungsmechanismen und den Umgang der Bevölkerung damit findet, sind so kraftvoll, dass man ihm über weite Strecken gebannt folgt und sich trotz der inhaltlichen Tristesse wunderbar amüsiert. Stellenweise schwelgt Sorokin zu sehr in Gewaltexzessen und Klischees, um seine düsteren Visionen zu illustrieren. Dennoch lohnt sich die Lektüre. Wer den "Zuckerkreml" vor allem als unterhaltsam-populäres Stück Systemkritik sieht, dürfte nicht enttäuscht werden.

Vladimir Sorokin: "Der Zuckerkreml". Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Kiepenheuer & Witsch, 240 S., 18,95 Euro

Lesung "Russland, wo bist Du, wohin gehst Du", heute, 20.30, Uebel & Gefährlich, Feldstraße 66 (U Feldstraße), Eintritt: 12,- Euro