Laurence Cossé schreibt vom “Zauber der ersten Seite“ und einem wehrhaften Literaten-Komitee

Manche Bücher sind so großartig, so bewegend, so lebensprägend, dass man sie immer wieder verschenkt. Weil verleihen bei ihnen null Sinn macht - sie werden niemals zurückgegeben. Das sind die Bücher, die eine geheime Verbindung zu eigenen Lebenssituationen haben, Gedankengeflechte notieren, neue Welten, Verstrickungen und Denkmöglichkeiten zu Auswegen zeigen. Jeder, der seine Nase gern in Bücher steckt, hat solche Lieblingsbücher. Fängt man erst mal an, sie aufzuzählen, kommt man rasch auf deutlich mehr als jene zehn Bücher, die einem um Himmels willen für die einsame Insel bleiben sollen.

In Paris macht Ivan Georg, ein Kenner und Bücher-Gourmet, eine Buchhandlung auf, die ausschließlich solche guten Bücher führt. Francesca, eine junge Mäzenin aus reicher Familie, fördert sie geradezu selbstlos, weil sie hofft, mit diesem Projekt der profit-zentrierten Welt ihres Mannes etwas entgegensetzen zu können. Mit ihrer Hilfe kann der Laden bei seinem Start alle ökonomischen Zwänge aushebeln und auf Kompromisse zugunsten von Massenware und billiger Unterhaltungsliteratur verzichten.

In den Regalen seines Ladens dürfen nur Werke stehen, die ein geheimes Komitee von Literaten gemeinsam für würdig befunden hat - Neuausgaben neben eigentlich vergriffenen Büchern in antiquarischen Editionen. Der seltsame Buchladen stößt anfangs auf den Hohn der strikt marktorientierten Bücher-Verkäufer und auf enthusiastische Zustimmung der wahren Literaturfreunde - und er findet immer mehr Freunde.

"Der Zauber der ersten Seite" von Laurence Cossé wäre bis dahin nur eine nette menschenfreundliche Utopie - aber dann geschehen gleich mehrere Attentate auf die Mitglieder des eigentlich doch streng geheimen Komitees. Diese Anschläge hängen offenbar nur an diesem Punkt zusammen, und sie sollen offenbar das intellektuelle Herz des Projekts treffen.

Ivan Georg, Francesca und Kommissar Heffner machen sich auf die Suche nach den verborgenen Feinden der guten Bücher. Laurence Cossés Roman malt eine großartige Vorstellung aus, beinahe den Rachetraum jedes Rezensenten: einen beherzten und begeisterten Gegenangriff gegen die übermächtige Bücherschwemme, die so unendlich viel Beliebiges und Belangloses zwischen Buchdeckel verpackt und in gewaltigen Auflagen unters Volk bringt. Cossé hat eine große Liebeserklärung an das Lesen geschrieben. An ein Lesen, das unsere Wahrnehmung der Welt und schließlich sogar diese Welt selbst verändern kann.

Selten nur wird das zögerliche, ängstliche Erwachen von Liebesgefühlen so wunderbar beschrieben wie hier, wo sich Ivan in das seltsame Mädchen Anis verliebt - und diese Liebe ganz langsam und nur deshalb wächst, weil sie eine Grundlage in der gemeinsamen Liebe zur Literatur hat.

"Wir wollen Bücher für die Nächte, in denen wir trotz aller Erschöpfung keinen Schlaf finden; Bücher, die wir einer Freundin mitbringen können. Wir wollen Bücher, die für uns geschrieben wurden. Wir wollen Bücher, die uns Luft zum Atmen geben. Wir wollen gute Romane", sagt Francesca an einer Stelle. Sie ahnt schon: Liebe zu Büchern kann nicht nur die Welt verändern, sie kann auch tödlich sein, vor allem aber verheißt sie höchstes Glück.

Nur schade, dass sich der Verlag nicht die kleine Mühe gemacht hat, die Liste der guten Bücher, über die im Roman gesprochen wird, noch ein bisschen weiter ins deutschsprachige Repertoire hinein zu verlängern.

Laurence Cossé: Der Zauber der ersten Seite. Übersetzt von Doris Heinemann. Limes Verlag, 464 Seiten, 19,95 Euro