Der US-Autor Jonathan Franzen sucht in seinem glänzenden neuen Roman “Freiheit“, den ersten seit neun Jahren, das richtige Leben.

Hamburg. Freiheit ist das, was Amerika in seinem Innersten zusammenhält: Freiheit ist die DNA des westlichsten aller Länder, Freiheit ist der Mythos dieses unbezähmbaren Riesen mit seinen großen Erzählungen von Aufstieg und dem Willen, das tun und lassen zu können, was man tun und lassen will. Freiheit ist das Wertvollste und Tollste, das Unverzichtbarste unseres Lebensstils, und Freiheit ist das verlogenste und enervierendste Trugbild unserer Gesellschaft, wenn man es auf Amerika bezieht und seinen Wunsch nach Demokratie-Exporten in die arabische Welt, die manche anderen Interessen verdecken.

Jonathan Franzen hat seinen neuen und heute auf Deutsch erscheinenden Roman, den ersten seit neun Jahren, "Freiheit" genannt, und einen imposanteren, alles und nichts benennenden Titel hätte er nicht finden können. Er beschreibt in einem Wort das große Thema dieses fabelhaften Romans, das in jedem Detail des gesellschaftlichen Panoramas und seiner repräsentativen Figuren der Mittelschicht aufscheint. Wer mit seinem Wirklichkeitszugriff so viel umfassen will und wem das auch noch gelingt, der hat es verdient, bereits vor dem Erscheinen von "Freiheit" auf dem Cover des "Time"-Magazins zu sein, der wird zum heißesten Kulturgespräch des Jahres. Franzen, der vor neun Jahren mit den "Korrekturen" ein von der Lesegemeinde enthusiastisch aufgenommenes Buch veröffentlicht hatte, muss und darf zurzeit in Amerika den größten Ruhm verkraften, der einem Schriftsteller zuteil werden kann (vielleicht, nur vielleicht die Weihen eines Literatur-Nobelpreises ausgenommen). Der Präsident höchstselbst soll den neuen Roman gelobt haben.

Wie in den " Korrekturen " begegnen wir in "Freiheit" dem, was man gemeinhin eine amerikanische, gutbürgerliche Durchschnittsfamilie nennt; sie könnte so, in größeren und kleineren Verschiebungen der kulturellen Muster, auch in Deutschland leben. Wir treffen diese Familie in dem Augenblick an, in dem sie sich als funktionierende Einheit auf dem Höhepunkt ihres Daseins befindet: Die Berglunds leben in Ramsey Hills, einem makellosen Wohlstandsviertel in St. Paul. Walter ist Anwalt und ein Öko-Freak, seine Frau Patty Hausfrau und für die Erziehung der beiden Kinder Jessica und Joey zuständig. Walter ist ein ziemlicher Tugendbolzen und das, was man hierzulande gerne leicht abschätzig als "Gutmenschen" bezeichnet; vielleicht, weil Moralisten immer einen Hang zur Humorlosigkeit haben. Dieser Walter ist entschieden humorlos und ironiefrei (ganz anders als sein Schöpfer), er ist ernsthaft, bis zu einem gewissen Punkt selbstlos und ganz ehrlich um die Zukunft des Planeten besorgt. Patty, Abkömmling einer liberalen New Yorker Familie und frühere Leistungssportlerin, ist dagegen eine Frau, die weniger gut in den Imperativen ihres Alltags verankert ist: weil sie im Grunde nicht das Leben ihrer Wünsche lebt. Nur im Vorspiel des 736 Seiten dicken Romans erscheint sie als stabile Persönlichkeit, als liebende Mutter und perfekte Nachbarin. Walter liebt Patty abgöttisch, und die Kinder sind ganz wohlgeraten.

Doch dann kommt der Bruch. Joey, der frühreife und mit Mutterliebe überschüttete Zauberjunge, fängt an, mit der Teenagertochter der deklassierten Nachbarn ins Bett zu gehen. Weil er die rechtschaffene Art seines Vaters und die Liebe seiner Mutter nicht mehr ertragen kann, zieht er bald ganz nach nebenan. Danach beginnt die Fassade der Vorzeigefamilie so kräftig zu bröseln, dass dahinter die Kampfzone der Selbstvergewisserungen und Selbstverunsicherungen zum Vorschein kommt.

Denn glücklich war diese Familie in einem umfänglichen Sinne natürlich nicht, das ist keine, aber das Familienbuch der Berglunds gründet auf einem verhängnisvollen ersten Kapitel: Als Walter sich in Patty verliebte, wollte die eigentlich lieber dessen besten Freund, den Rockmusiker Richard Katz. Die Konkurrenz ist die treibende Kraft in der Freundschaft der ungleichen Figuren Walter und Richard, sie gehört unweigerlich zum Diskurs der Freiheit. Wo alle das sind, was sie sein wollen, oder eben nicht, ist der Vergleich mit dem anderen Lebensentwurf die wichtigste zwischenmenschliche Praxis.

Jonathan Franzen ist Titelgeschichte gewidmet

Patty wird Alkoholikerin. Die Berglunds ziehen nach Washington, wo Walter einen merkwürdigen Job annimmt und für die Stiftung eines republikanischen Kohlemoguls Ökosysteme retten will. Die Familie kann er nicht retten, und das ist doch auch irgendwie konsequent, denn zusammen mit seiner hübschen, indischstämmigen Assistentin will er dafür sorgen, dass die Überbevölkerung des Planeten gestoppt wird: Kinderkriegen ist politisch nicht korrekt, Familien sind out!

Es geht in "Freiheit" um die Themen der vergangenen 30 Jahre oder des Lebens überhaupt: um Umweltschutz, den Irakkrieg, Israel, Feminismus, Musik, das immer gefährdete bürgerliche Leben, Generationenkonflikte und Sex. Es geht um die Frage nach dem Leben, das man führen will, und es geht um die je eigenen Vorstellungen von dem, was "Freiheit" bedeutet und welche Version man denn gerne haben möchte. "Nutze deine Freiheit wohl", steht an dem College angeschlagen, das Pattys Tochter Jessica besucht; aber namentlich für Patty ist es vor allem ein Zuviel an Freiheit, das sie in der luxuriösen, grenzenlos freien Welt findet. Es ist Sohn Joey, der in Bezug auf die amerikanische Irak-Politik die Lügen des staatlichen Freiheitsbegriffs entdeckt - und sich trotzdem als Geschäftsmann jene Lügen urbar machen will.

Franzens Kunst, die Lebensläufe seiner vier Protagonisten Walter, Patty, Richard und Joey in ganz feinen Strichen zu zeichnen, kann man nur als glänzend bezeichnen. Seine Figuren sind Freiheit suchende und selten findende Niederlagenmenschen, und in ihrer jeweiligen perspektivischen Verkürzung der Realität entblättert sich diese auf schrecklich schwierige und schrecklich schöne Weise. Franzens erzählerisches Vermögen ist unbegrenzt: Wie es ihm gelingt, die Familienhölle zu zeigen, und wie er dann auch wieder warmherzig das Miteinander in dieser kleinsten systemischen Einheit des Zusammenlebens von furchtbar zu liebenswert changieren lässt, das ist brillant und bewundernswert.

Seine altmodische Idee, einen allwissenden Erzähler aus unserer komplizierten Moderne berichten zu lassen, ist nicht anmaßend, sie ist verantwortlich für das Gelingen dieses Romans.

Wie labil unser Zusammenleben ist, davon erzählt Franzen in "Freiheit", und von vielem mehr.

Jonathan Franzen Freiheit. Rowohlt. Dt. von Eike Schönfeld und Bettina Abarbanell. 736 Seiten, 24,90 Euro. Lesung: 13.10., Kampnagel (Vvk. ab 20.9.)