“Rabenliebe“ ist die Suche des Autors Peter Wawerzinek nach der eigenen Verstörung - eine dicht gewebte, berührende Erzählung

Was wird aus einem kleinen Jungen, der mit zwei Jahren ins erste Kinderheim kommt und mit zehn Jahren von einer gefühlskalten Familie adoptiert wird? Wie entwickelt sich dieses Kind, dem das Mutterbild eine immerwährende Leerstelle bleibt, das ein Kinderleben führt, in dem es an allem mangelt - an Zuneigung, Liebe, Wärme, Verständnis? Ein Leben ohne Trost und ohne Hoffnung, dafür in Einsamkeit und Angst. Ein Leben, das Wunden in die Seele ätzt, die nie mehr heilen werden. Auch nach Jahrzehnten nicht.

Peter Wawerzinek, 1954 in Rostock geboren, ist eben jenes Schicksal widerfahren, und er ist Schriftsteller geworden. Er hat sein eigenes Erleben als "muttervaterloses" Kind in seinem mit dem Klagenfurter Bachmannpreis ausgezeichneten Roman "Rabenliebe" nacherzählt. Zwar als Roman deklariert, begibt sich Wawerzinek zugleich als Autor und Ich-Erzähler auf Spurensuche seiner eigenen Verstörungen. Es ist ein über 400 Seiten langer Aufschrei gegen Ungerechtigkeit und Unerhörtheit, gegen Unmenschlichkeit und Unersetzlichkeit: ein einziges Klagelied des Verlustes. "Man kommt ohne Zärtlichkeit aus, wie auch ohne Taschengeld", ist die ebenso schlichte wie herzzerreißende Erkenntnis.

Wawerzinek stellt sich seinen Erinnerungen, lässt Bilder voller Kälte vor seinen und des Lesers Augen erscheinen, er gleitet dabei in der Chronologie vor und zurück, macht Andeutungen, greift einen Faden auf, lässt ihn fallen, nimmt ihn später wieder in die Hand. "Ich habe Angst vor den Erinnerungen und will mich vor ihnen wie vor Leibesübungen drücken." Aber sie überschwemmen ihn, erzeugen den ihm vertrauten Geschmack auf der Zunge, den Geruch in der Nase. Und immer wieder die Erinnerung an Schnee. "Schnee ist das Erste, woran ich mich erinnere", so lautet gleich der erste Satz, um sofort, wie oftmals im ganzen Roman, zu poetischen Einsprengseln überzugleiten, zu Gedichten, Liedern und Märchen. Konterkariert werden diese literarischen Einschübe von Zeitungsmeldungen über misshandelte, vernachlässigte, getötete Kinder.

Wawerzineks Roman erzählt von einer fünf Jahrzehnte währenden Muttersuche. Die Mutter lässt, Mitte der Fünfzigerjahre, auf dem Weg in den Westen ihre zwei kleinen Kinder in der Wohnung in Rostock zurück. Der Junge und seine wenige Jahre ältere Schwester werden verwahrlost und vernachlässigt von Nachbarn entdeckt und voneinander getrennt den Behörden übergeben. Der Junge kommt in ein Kinderheim, wo er aus grenzenloser Einsamkeit bis zum vierten Lebensjahr nicht spricht, sondern mit den Vögeln im Schnee kommuniziert. Weitere Heime an der Ostseeküste, dazu zwei fehlgeschlagene Adoptionsversuche, die die schmerzliche Empfindung des Nichtgewolltseins nur erhöhen, und schließlich eine Adoption in eine steife, freudlose Lehrerfamilie, die sich als etwas Besseres dünkt, sind die Pfeiler eines Lebens in Trostlosigkeit.

Es sind kaum die Handgreiflichkeiten der Adoptivmutter, nicht einmal ihre lächerlichen Boshaftigkeiten, die den Alltag des pubertierenden Jungen erschweren: Es ist die grandiose Herzlosigkeit einer Person, der Empathie und Einfühlung gänzlich abgehen und deren Erziehungsideal sich an den Überlegungen eines Freiherrn von Knigge orientiert. "Ich unterstehe den Adoptionseltern, sprich, ich bin einzig für die Adoptionsmutter und ihre hochfahrenden Pläne zur Umerziehung da." Dazu gehören das strikte Verbot, Kontakt zu den Freunden im Heim zu halten, außerdem herrscht "Mutterverschweigen". Das Unvermögen und das Desinteresse aller Erziehungsberechtigten, dem Verlassenen von seiner Herkunft zu berichten, von der Existenz einer Schwester, sind mehr als pädagogische Verfehlungen: Sie entziehen dem Kind die Möglichkeit zur Identitätsbildung.

Aber gerade das Verschweigen bewirkt den immer heftiger werdenden Impuls, die Mutter zu suchen. Einmal widersteht der junge Mann, der inzwischen Grenzsoldat geworden ist, gar der Versuchung, einfach auf die andere Seite zu marschieren und sie, von der er längst weiß, dass sie noch lebt, im Westen zu suchen. Doch der Plan ist nur aufgeschoben. Erst im Alter von 50 Jahren erfährt Peter Wawerzinek alle nötigen Informationen. Und doch braucht er noch drei weitere Jahre, um sich tatsächlich auf den Weg zu machen. "Meine Mutterfahrt ist wie eine Expedition ins ewige Eis. Ich breche auf wie einst Scott zur Antarktis mit dem Ziel, als erster Mensch den Südpol zu erreichen. Ich erreiche den Südpol, wenn ich den Klingelknopf zur Wohnung der Mutter drücke ... Ich komme zu spät. Ich erreiche den Mutterpol viel zu früh. Ich werde mich zur Mutter aufmachen und dabei ums Leben kommen." Und die Enttäuschung kennt keine Grenzen.

Bei all diesen Erwägungen, Überlegungen, Erinnerungen und Vergewisserungen kann es kaum ausbleiben, dass der Autor in seinen Bewusstseinsströmungen gelegentlich allzu sehr ausufert, dass seine Gedanken mäandern und sich nicht selten auch wiederholen, sodass man bisweilen nur unwillig seinen Ausführungen folgt. Gleichwohl ist diese oftmals sehr dicht gewebte und literarische Erzählung von frühem Leid eine einzige Erschütterung: Sie legt Zeugnis ab von den Verheerungen einer Kinderseele, von den Empfindungen eines Menschen, "der tief unterhalb des Meeresspiegels" lebt.

Peter Wawerzinek :Rabenliebe. Galiani Verlag, 429 Seiten, 22,95 Euro.