Der Däne Jussi Adler-Olsen schreibt Thriller, die das Genre nicht voranbringen, sich aber blendend verkaufen. Eine Annäherung an das Phänomen

Hamburg. Als Junge wollte Jussi Adler-Olsen eine Maschine erfinden, die die Menschheit vor allem Bösen bewahrt. Als 56-jähriger Autor tat der Däne das Gegenteil: Er erfand den Ermittler Carl Mørck, dessen Assistenten Assad - und ließ eine ganze Reihe Bösewichte auf die Menschen los. Aber die Leser unter den Menschen wollen gar nicht vor Terror und Totschlag, vor Psychopathen und Perversen bewahrt werden: Olsens Thriller verkaufen sich zu Hunderttausenden, stürmen die Bestsellerlisten und setzen sich dauerhaft fest. "Erbarmen", der erste Band, hält sich in der 48. Woche im "Spiegel"-Ranking (aktuell auf Platz sechs), der gerade erschienene Nachfolger "Schändung" ist auf Platz zwei.

Niemand hätte sich gewundert, wenn die Modewelle abgeebbt wäre

Die literarische Modewelle "Morden im Norden" rollt also weiter. Obwohl sich niemand gewundert hätte, wenn sie nach dem fulminanten Erfolg von Stieg Larssons "Millennium-Trilogie" abgeebbt wäre. Raffinierter als der Schwede konnte doch eigentlich keiner schreiben; der Markt musste doch mal gesättigt sein mit dem starken Stoff aus Skandinavien. Zumal Larssons Trilogie innerhalb kürzester Zeit auch komplett im Kino zu sehen war.

Von wegen. Olsen straft alle unkenden Auguren Lügen und schafft es sogar, der Skandinavien-Krimis längst müde gewordene Leser wieder für das Genre zu gewinnen.

Obwohl er nichts wirklich Neues liefert, sondern das Sujet bestenfalls in Nuancen weiterentwickelt. Wie Olsens Wegbereiter - vor Larsson Leute wie der Norweger Jo Nesbø, die Schweden Håkan Nesser und Åke Edwardson und natürlich deren Landsmann Henning Mankell, Urvater und kommerzieller König des skandinavischen Erfolgskrimis - schickt der Däne einen Ermittler ins Rennen, der keine Überfigur ist: Carl Mørck, geschieden, alleinerziehend, ausgebrannt, im Job abgeschoben auf eine bedeutungslose Dienststelle im Keller des Kopenhagener Polizeipräsidiums, frustriert und von Selbstzweifeln gequält, seit bei einem Einsatz unter seiner Leitung ein Kollege starb und ein anderer querschnittgelähmt ist. Der Kommissar leidet in einer Art am Leben, in der sich viele Leser wiedererkennen dürften - eines der besten Verkaufsargumente für Bücher.

Ein weiteres ist der Unterhaltungsfaktor. Dafür ist in Olsens Oeuvre - der dritte Band ist in Dänemark erschienen, am vierten schreibt er - Hafez el-Assad zuständig. Der syrische Immigrant bringt es vom Faktotum und Putzmann im Präsidium zu Mørcks Assistenten. Solche witzigen, leicht skurrilen Figuren, die mit trockenem Humor ebenso naiv wie schlitzohrig daherkommen können, sind seit Sherlock Holmes und Dr. Watson gute Krimitradition.

Der pessimistische Blick auf die Gesellschaft ist ein zentraler Aspekt

So wie gute Geschichten gute skandinavische Tradition und ein Erfolgsgarant sind. Begründet hat das Genre in den späten Sechzigerjahren das schwedische Ehepaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö mit seinen Plots um den Polizisten Martin Beck. Sjöwall/Wahlöös pessimistischer Blick auf die Gesellschaft zieht sich durch viele Romane ihrer Nachfolger und ist auch bei Jussi Adler-Olsen ein zentraler Aspekt. In "Erbarmen" fesselt er die Leser mit dem Martyrium einer Politikerin, die entführt und jahrelang gefangen gehalten wird. "Schändung" schaut auf die zerstörte Seele einer Frau und drei mächtige Männer, die ihr nach dem Leben trachten. Die Täter sind keine gesellschaftlichen Randfiguren, sondern hoch angesehene Mitglieder der oberen Zehntausend, erzogen in einem Elite-Internat, materiell erfolgreich - und charakterlich verdorben, weil psychisch krank. Das kleine beschauliche Nachbarland, in dem wir so gern in heimeligen Häusern mit dem flatternden Dannebrog im Vorgarten Urlaub machen, wird zum abgrundtiefen Sündenpfuhl, zum Armageddon der Moral und des menschlichen Umgangs miteinander.

Das alles hat Olsen hoch spannend und atmosphärisch dicht aufgeschrieben. In solider, klarer Sprache, mit gut dosiertem Dialogwitz. Das Buch ist keine große Literatur, aber leistet, was ein Thriller leisten muss: Man will ihn nicht mehr aus der Hand legen. Die (gern biblischen) deutschen Ein-Wort-Titel tun ein Übriges. Wie schallgedämpfte tödliche Schüsse treffen sie den Krimiinteressenten - eine Verlagstaktik, die spätestens seit Larssons "Verblendung", "Verdammnis" und "Vergebung" exzellent aufgeht. Wenn im Sommer 2011 Olsens dritter Band in Deutschland erscheint, soll er "Erlösung" heißen.

Froh ist man bei dtv auch über die gut zu vermarktende Biografie des neuen Stars im Haus. Das delikateste Detail: Der heute 60 Jahre alte Olsen wuchs als Sohn eines leitenden Arztes in psychiatrischen Kliniken auf, gemeinsam mit den Patienten. So einer kennt sich gut aus mit kranken Seelen und macht als Thrillerautor noch mehr her.

Die Leser bekommen das, was sie kennen und worauf sie vertrauen

Wenn der Däne am kommenden Mittwoch im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals in Hamburg aus "Schändung" liest, dann werden die mutmaßlich zahlreich erscheinenden Menschen keinen Kopisten erleben, sondern schlicht einen geschickten Bestsellerautor. Einen, der den Leuten einerseits etwas Neues gibt und andererseits das, was sie kennen, worauf sie vertrauen, das sie deshalb haben wollen.

Davor muss die Menschheit nun wirklich nicht bewahrt werden.

Jussi Adler-Olsen deutsche Texte: Peter Lohmeyer, 8.9., 20 Uhr, Uebel & Gefährlich, Eintritt 12 Euro, Karten unter T. 30 30 98 98; www.harbour-front.de

Neu von Jussi Adler-Olsen: "Schändung", aus dem Dänischen von Hannes Thiess, dtv, 460 S., 14,90 Euro