In dem existenzialistischen Roman “Ins Freie“ erzählt Joshua Ferris vom Dunkel

Sollte Joshua Ferris im Sinn gehabt haben, das deprimierendste Buch des Jahres zu schreiben, dann ist ihm das mit seinem zweiten Roman "Ins Freie" wahrscheinlich gelungen. Das soll natürlich in überhaupt keiner Weise irgendjemanden davon abhalten, diesen so tiefgründigen wie verstörenden Text zu lesen, denn die größten Romane der Weltliteratur waren grundsätzlich keine leichtgewichtigen Komödchen. Man kann sagen, dass, wer nach der Lektüre eines Buches ein seliges Lächeln auf den Lippen trägt, eher kein Meisterwerk gelesen hat. Gemessen daran müsste man nach "Ins Freie" in bittere Tränen angesichts der unfassbaren Tristesse menschlicher Existenz ausbrechen, es ist ja die einzige, die wir kennen.

Und sie hat ihre aus nichts als purer, nackter Angst besetzten Imaginationen. Tim Farnsworth, die Hauptfigur, ist eigentlich ein vom Glück Geküsster: Seine Frau ist hübsch, sein Häuschen auch, und die Karriere läuft bestens. Aber der Anwalt wird von einer seltsamen Krankheit heimgesucht. Sie ist nicht organisch und deshalb nicht mit herkömmlicher Medizin heilbar, man muss sie für einen psychischen Defekt halten: Tim läuft wie im Wahn immer wieder weg, von zu Hause und aus seinem Büro. Er läuft und kann damit nicht aufhören, bei Wind und Wetter, bis zur völligen Erschöpfung. Nach den zehrenden Läufen bricht er ohnmächtig zusammen, weil alle Energiespeicher aufgebraucht sind.

Seine Frau muss ihn dann abholen, oft aus den gefährlichen Zonen der Stadt oder Vorstadt, die Geschichte spielt in New York und um und bei, aber der Ort ist eigentlich egal. Sie binden ihn am Bett fest und bringen ihn zu Ärzten, aber nichts hilft. Manchmal verschwindet die Ausreißerkrankheit, die lebensgefährlich ist, doch nach ein paar Jahren ist sie wieder da. Tim Farnsworth glaubt einen Grund für seine Krankheit zu kennen: Er nimmt immer alles, was man das Glück nennt, für selbstverständlich. Er denkt nicht mehr nach und lebt wie auf Autopilot, und der lenkt ihn doch ganz gut. Er ist ehrgeizig, vielleicht überehrgeizig, in diese Richtung weist die Handlung, er ist einer, der auch egoistisch seine Interessen durchsetzt. Er ist ein moderner Mensch, gestählt in den Konkurrenzkämpfen des kapitalistischen Alltags. Aber will er dieses Leben wirklich?

Es sind deutliche Hinweise, die Ferris gibt, wie dieser in Amerika gefeierte Roman zu lesen ist: als allgemeingültige, philosophische Betrachtung. Es ist kein Stein, den die bedauernswerte Figur den Berg hochrollt, und als glücklichen Menschen muss man ihn sich auch nicht vorstellen. Es gibt keine Zeitangabe in diesem Buch, die Handlung erstreckt sich über viele Jahre.

Im Original heißt "Ins Freie" übrigens "The Unnamed", das Schicksal des Tim Farnsworth ist das Schicksal von uns allen, wir laufen immer vor etwas davon. Das ist wohl die denkbar einfache Interpretation, Ferris' Buch, das in die Tradition der philosophischen Romane (Camus, Saramago) gehört, wäre dann eine Allegorie auf die Flucht oder den Eskapismus.

Allerdings gibt es keine Parallelwelt, in die die Tim-Figur flüchten kann oder will, und die Getriebenheit hat ihr Ziel in sich selbst. Letztlich nur deshalb ist dieses Buch wahrhaftig erschütternd, es öffnet den Raum für Erklärungen und Lösungsansätze, von denen freilich keine ans Ziel kommt.

Auf einer Ebene ist "Ins Freie" auch ein Familiendrama, aber viel tiefer doch greift Ferris ein in die Verhandlungsprozesse im Ich. Nämlich dann, wenn der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen ist, wenn es um die Freiheit des eigenen Willens geht.

Später, nachdem die Hauptfigur die Krankheit, die eine Krankheit zum Tode ist, endgültig akzeptiert hat, gibt sie ihr diese Freiheit. Sie lässt los und entwindet sich allen Bindungen. Der Job ist egal, die Familie auch. Was zählt, ist der triumphale Sieg über den Körper. Der piesackt ihn, kein Wunder angesichts dessen, wie er ihn ausdörrt. Dieser Tim Farnsworth führt einen Krieg gegen sich selbst, aber was er eigentlich gewinnen will, das erfährt man nicht. "Ins Freie" ist in verschiedene Richtungen deutbar, und am Ende weiß man nicht, ob die Figur gewonnen hat oder nicht. Vielleicht ist es der Sieg des Solipsismus, des Nur-ich-selbst-Allein. Vielleicht ist es aber auch die Niederlage des nicht gesellschaftsfähigen Subjekts.

Es gibt keine Erlösung, und diese Einsicht tut weh. Ferris hat in einem Interview etwas über die Mehrdeutigkeit seiner Geschichte gesagt: "Genau darum geht es bei wahrer Literatur immer: um die Ambiguität des Lebens."

Joshua Ferris Ins Freie. Übersetzt von Marcus Ingendaay. Luchterhand Verlag. 338 S., 19,99 Euro. Joshua Ferris liest zusammen mit dem Schauspieler Ulrich Matthes am 17.9., 21 Uhr, auf der "Cap San Diego". Tickets für 12,- unter T. 30 30 98 98.