Mit dem respektablen Laienprojekt “Frühlings Erwachen“ von Regisseur Daniel Wahl eröffnet das Deutsche Schauspielhaus die Saison 2010/2011.

Hamburg. Wenn das Deutsche Schauspielhaus, immerhin die größte Sprechbühne des Landes, die neue Theatersaison mit einer Inszenierung eröffnet, in der kein einziger professioneller Schauspieler auf der Bühne steht, sondern ausschließlich Laien, so ist das auch ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass künstlerisch keine Kraft, kein Wille, keine Liebe und kein Anspruch vorhanden sind, das Theater als Ort einzigartiger Erfahrungen zu erhalten. Denn im Theater reicht es eben nicht, eine Geschichte oder Alltagserfahrung nachzuerzählen. Da könnte man auch ein Buch lesen. Auf der Bühne müssen Menschen gestaltet, geformt und mit allen Sinnen ausgestattet werden. Das jedenfalls gelingt nur Profis. Bestenfalls.

Ja, man muss den Bühnen neue Besuchergruppen erschließen. Und ja, man muss und soll unbedingt und vor allem die Liebe Jugendlicher zum Theater wecken, soll die Spielfreude aller Menschen fördern und muss Besucher ins Theater locken, die von allein nicht kommen würden. Ein Projekt, wie es jetzt Regisseur Daniel Wahl mit 14 Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren und 14 älteren Menschen ab 65 Jahren zeigt, die gemeinsam Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ spielen, ist nur zu begrüßen. Aber muss es denn gleich die große Bühne sein, die Saisoneröffnung? Wenn dieser Auftakt einen Einblick in die Spielzeit geben soll, kann man nur sagen: Super, das soziale Engagement, aber künstlerisch erreicht man so nicht einmal das Niveau eines mittelmäßigen Stadttheaters. Und irgendwie sollte das Theater doch auch daran interessiert sein, seine klassische Klientel zu behalten. Nicht auszudenken, sollte das Museum für Kunst und Gewerbe demnächst mit einer Töpferkurs-Ausstellung Hamburger Migranten kommen. Oder die Laeiszhalle mit einem Blockflötenkonzert der Hamburger Grundschulen!

Regisseur Daniel Wahl hat sich Wedekinds 1890 geschriebenes und erst 1906 uraufgeführtes Stück "Frühlings Erwachen" ausgesucht, um zu demonstrieren, wie wenig Jung und Alt einander verstehen. Ziel seines Projektes, das das Schauspielhaus gemeinsam mit dem Verein "Werte erleben" entwickelt hat, ist es, ganz normale Menschen aus zwei Generationen, die im Programmheft "Experten des Alltags" genannt werden, für mehr "Miteinander und Füreinander" zu gewinnen. Doch Wahl vertraut "Frühlings Erwachen" nicht. Es muss ein zweiter Text dazukommen. Und so steht Larry Clarks Film "Kids" über eine abgestumpfte, gelangweilte, zugedröhnte, übersexualisierte Generation von Jugendlichen, der 1995 manchen Zuschauer schockierte, den Kids von Wedekind gegenüber, die 100 Jahre zuvor lebten. Vielleicht weil auch Wedekinds Stück damals als unerhört empfunden wurde, als Pornografie. Dabei geht es darin doch bloß um Jugendliche, die mit ihren Pubertätsnöten von den Erwachsenen alleine gelassen werden. Und zwei von ihnen, Wendla und Moritz, müssen deshalb sogar sterben.

Vielleicht wollte Wahl Drastischeres, Moderneres und lässt die Jugendlichen von Ficken, Blasen und Sperma sprechen. Doch merkwürdigerweise entfaltet eine der Wedekind-Szenen eine viel stärkere Wirkung auf das Publikum. Als nämlich Wendla ihre Mutter bittet, ihr zu erklären, woher die Kinder kommen, und die Mutter sich windet und verkrampft, bis sie schließlich sagt, man müsse den Mann, mit dem man verheiratet sei, sehr, sehr doll lieben. Wendla, die schwangere und natürlich unverheiratete 14-Jährige, begreift verständlicherweise gar nichts. Aber das Publikum alles: die Tabuisierung des Themas Sexualität, die bis heute, trotz freier Wortwahl, anhält. Die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen. Die Enge, das fehlende Vertrauen. Alles.

Wahl und seine Spieler erzählen die Geschichten über die Schwierigkeit, erwachsen zu werden, lebhaft, mit viel körperlichem Einsatz. Es wird getanzt, gesungen, geklatscht, geklettert. Nähe ist nur kurz möglich, durch grobe, hastige Bewegungen. Zärtlichkeiten sieht man erst am Ende des einstündigen Abends. Sehr eingängig das Bild, bei dem Wendla an der Abtreibung stirbt, in dem ihre Mutter mit Totenkopfmaske ihr eine Schüssel Blut in den Schoß des weißen Kleides schüttet.

Drei der wedekindschen Jugendlichen - Wendla, Melchior und Moritz, der sich am Ende erschießt - treten auch als alte Menschen auf, zeigen, wohin sie das Leben geführt hat oder hätte führen können. So wird der alte Moritz von Jugendlichen, die heute leben, totgetreten. Und man landet direkt beim Fall Dominik Brunner.

Eine kleine Überraschung hatte der Abend dann auch noch. Der erst 14-jährige Lukas Sperber, der den Moritz Stiefel spielt, ist wirklich begabt. Er zeigt diesen zweifelnden, verwirrten Jungen so ehrlich suchend, gar nicht ängstlich, sondern verwundert, verzagt, enttäuscht. So einer gehört ans Theater.