Martin Mosebach ist mit dem Buch ein großer Wurf gelungen. Wer es liest, erfährt viel über den eigenen Pulsschlag in der Zeit.

Dieses Buch ist ein Glücksfall. Ich muss gestehen, dass ich den Namen Martin Mosebach, bevor er 2007 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, nie so recht wahrgenommen hatte. Der Name war für mich ein edles Gerücht, er galt als feinsinniger Essay-Schreiber und großartiger Stilist. Nun ist soeben sein Roman "Was davor geschah" erschienen, und man könnte mit dem Titel die Wirkung des Buches paraphrasieren: Was davor mit Mosebach geschah, kann man getrost vergessen angesichts dieses schwebenden Romans, der das Gewicht und die hinreißenden Bewegungen eines Calderschen Mobiles hat. Und der gleichzeitig die tiefe Spur eines Gesellschaftsbildes nicht nur in den Helden ritzt, der als allwissender Erzähler von allem und allen erzählt, dem er und denen er in den ersten sechs Monaten als dreißigjähriger Frankfurt-Novize begegnet ist. Nur mit keinem Wort von sich. Oder fast keinem. Bis am Schluss das Buch auch bei ihm die tiefen Spuren einer großen Liebe, wenn auch in flüchtiger Ironie verborgen, offenbart.

Dem Leser, das kann ich versichern, geht es, so er sich auf dieses federleicht scheinende Spiel einlässt (mit einer Patience vergleicht es der Held), ähnlich. Auch er wird das Buch, dessen Zeit, dessen Figuren nicht so schnell wieder loswerden. Es sind Gestalten, die wie die Figuren bei Heimito von Doderer, bei Musil oder in Thomas Manns Zauberberg im literarischen Gedächtnis bleiben werden; in einer Romangalerie, in der man gerne verweilt, weil man beim Blick in diesen Gesellschaftsspiegel auch viel über den eigenen Pulsschlag in der Zeit erfährt.

Was geschah davor? Offenbar wird der Held von einer zärtlich-eifersüchtigen neuen Liebe im Liebesbett auch in die Zange eines Verhörs genommen. Er wird inquisitorisch gefragt, was er gemacht habe, bevor er ihr begegnet sei. Wie war deine Frankfurter Welt, bevor du mich gefunden, bevor du sie mit mir geteilt hast? Was hat dich aus diesen sechs Monaten zu mir geführt? Mosebachs Roman erfindet ein heiter-zärtliches Vexierspiel von Liebe und Zufall. Ja, hebt der Erzähler an, er habe die erste beste Wohnung genommen und sei von ihr wegen des wunderbaren Lichts, das durch die Baumkrone einer riesigen Kastanie gefiltert wurde, bezaubert gewesen. Doch der Baum war nur äußerlich noch gesund und intakt, er wird jäh abgeholzt. Bliebe das zweite Geheimnis der Wohnung, ein seltsamer Nachbar, in dessen Wohnung auch Seltsames vorgeht, und von dessen geheimem und heimlichem Treiben er nichts mitbekommt.

Im abgeholzten Baum mag man (aber so aufdringlich ist Mosebach gar nicht) eine Art Zeichen dafür sehen, was dem Erzähler in den ersten sechs Monaten passieren soll. In der geheimnisvollen Wohnung liegt schließlich der Schlüssel für das Geheimnis, das die gesellschaftliche Welt, in die der Erzähler als Randfigur hineingerät, die er mit elegischer Ironie und zärtlicher Distanz beschreibt, bis sie fällt wie der Baum vor seinem Fenster. Bei einem Bier nach Büroschluss in der Frankfurter City, wo sich die jungen Banker und Manager wie auf einer Kontaktbörse treffen, bevor sie in den Taunus oder in ihre Frankfurter Wohnlöcher verschwinden, wird er von dem jungen Hopsen zu einem der legendären Wochenendnachmittage geladen, die seine Familie in schöner Taunus-Höhenlage am eigenen Swimmingpool vor eigener prächtiger Villa veranstaltet. Es scheint eine heiter-gelöste, im Spiel, in der Konversation, im Weingenuss sich selbst ihrer Werte und Vorlieben versichernde Gesellschaft zu sein, die zwei Generationen, die der Eltern und ihrer schon erwachsenen Kinder umschließt.

Es sind schöne Menschen, sie haben Geschmack und Stil, sie können miteinander umgehen, verstehen noch ihre Bosheit stilsicher zu zügeln. Neuzugänge werden geprüft und aufgenommen und ins Spiel einbezogen. Im Mittelpunkt steht das Ehepaar Hopsen, sie unermesslich reich von Haus aus und mit der daraus resultierenden und kalkulierenden Sparsamkeit auch im Gefühlsbereich; er ein westfälischer Bauernschädel, der in sich ruht und so, ohne viele Worte machen zu müssen, scheinbar ein Zentrum dieses Kreises ist. Als Gegengewicht gibt es einen großen Ex-Politiker namens Schmidt-Flex, eine Art Mischung aus Helmut Schmidt und Thomas Manns Mynheer Peperkorn aus dem "Zauberberg", der alle niederschwadroniert mit seinen Lebenserfahrungen, und dabei seinen mickrigen Sohn jedes Mal zurückstuft. Dessen Frau Silvi, eine entzückende, reizend tirilierende Schnapsdrossel, löst die Katastrophe aus, als sie sich mit dem Westfalen-Oberhaupt der Familie Hopsen auf eine Liebschaft einlässt. Alle Harmonie bricht zusammen wie der morsche Baum es getan hätte, wäre er nicht rechtzeitig gefällt worden. Bei all dem, was vorfällt (ein Levantiner namens Salam, mit behaarten Händen und dick aus seinen stets neuen Anzügen platzend, hat längst die betuchte Hausherrin Hopsen besprungen, wobei ein großer Kakadu, der im Hause herrscht, Zeuge war und eine Salonintrige mit heimlichen Briefen in Gang gesetzt hat), besticht die Genauigkeit der liebevollen und doch boshaften Menschenbeobachtung. Es gibt Szenen von großer Poesie und kalter Schönheit, wie eine Schlittenfahrt im jungferlichen Neuschnee. Es gibt hinreißend komische Augenblicke, so etwa, wenn der ins sizilianische Ferienidyll vorausgeschickte Schmidt-Flex-Sohn genüsslich eine Zigarre raucht und deren Stummel dann in die Trockenheit wirft, um sie dann panisch zu suchen und den drohenden Brand löschen zu wollen.

Und wie jeder große Roman handelt auch dieser von der unerbittlichen Vergänglichkeit der Zeit: In einer großartigen, wenn auch eher beiläufig und nicht mit schwerem Hammer vorgetragenen Memento-Mori-Szene sitzt eben jener Tunichtgut Schmidt-Flex an einem Denkmal. Die Stadtstreicher gucken durch ihn hindurch wie durch Geäst, sie sind nur mit sich und ihrem Bier beschäftigt. Als ein Alter vorbeischlurft, offenbar von einer Pflegerin gekämmt und in den zu großen Anzug verpackt, sieht sich der junge Schmidt-Flex wie in einem dreißigjährigen Vorgriff aus der Zeit schlurfen. Mit Erstaunen, so bemerkt Mosebach mit einem leichten Sarkasmus, sieht er, wie sich der Greis ("unversehens eine ihm nicht zuzutrauende Geschicklichkeit" entwickelnd) in ein Taxi hineinfallen lässt, "wie ein Sportler, der das Fallen geübt hat". Diese herbstliche Szene endet mit dem Satz: "Hans-Jörg meinte, es sei seine eigene Bewegung gewesen, die den Greis von sich weggetrieben habe, wie ein Windstoß, der in Herbstlaub fährt."

Martin Mosebach: Was davor geschah, Carl Hanser Verlag, 336 Seiten, 21,90 Euro