Am Freitag machte der “Klangzug“ im Harburger Bahnhof Station. Auf seiner zweiwöchigen Reise durch Deutschland wirbt er für Neue Musik.

Hamburg. Zwischen meinen Ohren stampft ein Güterzug hindurch. Aber ich kann sie mir nicht zuhalten, auf ihnen sitzen Kopfhörer. Die verstärken das rhythmische Schlagen der Räder auf den Schwellen. Hin und wieder zieht das Kabel straff, das die Kopfhörer und mich mit dem Mann in der Warnjacke und seinem Paar Puschelmikrofonen verbindet. Benommen stolpere ich hinter ihm über den Bahnsteig.

Nein, es ist kein Krach-Toleranztest, an dem ich teilnehme, sondern die Hörführung des Projekts "Sounding D" vom Netzwerk Neue Musik. Das Herz der Unternehmung ist der weiße "Klangzug" mit seinen Klanginstallationen, der für einen Tag auf dem Harburger Bahnhof Station macht. Am Mittwoch hat der Zug in Dresden die gut zweiwöchige Rundreise durch Deutschland begonnen.

An diesem nieseligen Vormittag sind höchstens eine Handvoll Besucher zu den drei Waggons auf Gleis fünf gekommen. Für die erste "Klangsuche" auf dem Bahnhofsgelände sind wir zu dritt. Seit Björn Lindig, im Hauptberuf Komponist, uns verkabelt hat, haben die Kopfhörer die Lufthoheit über unsere Wahrnehmung. Ungefähr so scharf müssen die Richtmikrofone an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze gewesen sein: Nichts entgeht uns, ob wir wollen oder nicht. Es ist, als riefen die altvertrauten Geräusche uns zu: "Hier bin ich, achte doch endlich auf mich!" Lautsprecherdurchsagen mischen sich mit dem Rattern von Kofferrollen; Schritte tippeln, schurren, klacken.

"Neue Musik will erreichen, dass wir unsere Umwelt bewusst mit den Ohren wahrnehmen", sagt der Kanadier Robin Minard, Professor für Elektroakustische Komposition an der Musikhochschule Weimar, der sich das Konzept des Klangzugs ausgedacht hat. "Unser Alltag ist so stark vom Sehen bestimmt, dass wir für das, was wir hörend erleben, viel weniger Worte haben."

Minard hat sich auf Musik außerhalb des Konzertsaals spezialisiert. So umfangen den Besucher seiner Installation "Outside In (Blue)" Vogelzwitschern oder Wasserrauschen, sanfte Töne einer E-Gitarre und immer wieder Eisenbahngeräusche wie ein Signalhorn oder das Zischen einer Dampflok. Minard hat die Klänge zu Flächen verwoben, die sich unmerklich gegeneinander verschieben und immer neue Effekte hervorbringen. Ganz leer ist der Waggon, durchflutet von blauem Licht: eine Insel der Ruhe, mitten in Harburg. Und wer sich in ein "Hörabteil" setzt, hat ein ähnliches Klangerlebnis, wenn er seine Ellenbogen in zwei Näpfe stützt und sich mit dem Handballen die Ohren zuhält. Über die Vibration der Knochen gelangen Sphärentöne in die Ohren, die niemand anders hören kann.

Weniger zart geht es im Kunstverein Harburger Bahnhof zu. Eben haben wir noch erstaunt einem Gespräch um die Ecke gelauscht, da machen die Kopfhörer aus dem Fortissimo-Ausbruch einer Flöte und eines Klaviers eine Explosion, die uns zusammenzucken lässt. Dabei sind wir nur in einen Soundcheck geraten. Das ensemble intégrales und das Ensemble WireWorks gehören zu den Hamburger Künstlern, die sich mit Performances und Konzerten an dem Projekt beteiligen.

Noch lange nachdem ich die Kopfhörer abgenommen habe, fühlen sich die Trommelfelle wie frisch gewaschen an. Und die Ohren nehmen all die Bahnhofsgeräusche mit wie eine kostbare Erinnerung an einen Ausflug in eine andere Welt.