In seinem neuen Buch “Grimms Wörter“ klingt Literaturnobelpreisträger Günter Grass manieriert und gedrechselt wie sprachliches Kunstgewerbe.

Hamburg. Es ist ein Alterswerk. Eine über weite Strecken leicht wehmütig gestimmte Rückschau auf das eigene Leben, in dem sich Günter Grass zu den Sprachwissenschaftlern und Märchensammlern Jacob und Wilhelm Grimm in Beziehung setzt. "Grimms Wörter" ist der Abschluss der autobiografischen Trilogie, nach der Familienchronik "Die Box" (2008) und seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen "Beim Häuten der Zwiebel", in denen der Nobelpreisträger 2006 eher beiläufig seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS eingestand - und damit eine gewaltige, aber vor allem verkaufsfördernde Debatte um Moral, Doppelmoral und Vergesslichkeit lostrat.

Sein neues Werk nennt der Autor "Eine Liebeserklärung", eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache. Wie schon in dem Erinnerungsbuch "Die Box", die mit dem Satz beginnt: "Es war einmal ein Vater, der rief, weil alt geworden, seine Söhne und Töchter zusammen - vier, fünf, sechs, acht an der Zahl -, bis sie sich nach längerem Zögern seinem Wunsch fügten", schlägt Grass auch im neuen Buch einen märchenhaften Ton an: "Es waren einmal zwei Brüder, die Jacob und Wilhelm hießen, für unzertrennlich und landesweit als berühmt galten, weshalb sie ihres Nachnamens wegen die Brüder Grimm, Grimmbrüder, auch Gebrüder Grimm, von manchem die Grimms genannt wurden."

Das intendiert schon die biedermeierliche Umständlichkeit, mit der er über die ungleichen, aber in gemeinsamer Arbeit vereinten Brüder erzählt, die als Bibliothekare und Professoren wirkten und aus philologischem und volkskundlichem Interesse heraus Märchen sammelten. Er erzählt, wie sich die eigentlich unpolitischen Gelehrten durch den Willkürakt eines Monarchen dazu gezwungen sahen, Farbe zu bekennen und in einer hochpolitischen Angelegenheit Stellung zu beziehen: Nachdem Ernst August I. 1837 die erst vier Jahre zuvor erlassene, für die damalige Zeit enorm freiheitliche Verfassung für das Königreich Hannover außer Kraft setzte, gehörten Jacob und Wilhelm Grimm zu den sieben Professoren der Göttinger Universität, die gegen diesen Verfassungsbruch protestierten - und daraufhin ihrer Ämter enthoben wurden. Während der verheiratete Wilhelm in Göttingen bleiben konnte, gehörte Jacob zu jenen drei Mitgliedern der "Göttinger Sieben", die das Land verlassen mussten. Diese Haltung imponiert Grass und regt ihn dazu an, über das Verhältnis von Geist und Macht in der deutschen Geschichte zu referieren. So zieht er einen Bogen von der Duckmäuserei, mit der die lieben Kollegen die Entlassung der mutigen Professoren hinnahmen, zum beredten Schweigen ihrer Kollegen knapp 100 Jahre später, als "aus Professorenmund keine Widerworte laut wurden", als die Nationalsozialisten deutsche Hörsäle von jüdischen Professoren und Studenten "säuberten".

Grass beschreibt, wie der Rausschmiss der Brüder ungeahnt und ungewollt schließlich doch noch sein Gutes hat. Nämlich mit der Offerte der Leipziger Verleger Karl Reimer und Salomon Hirzel, die den entlassenen Professoren das Angebot für ein neues großes Wörterbuch der deutschen Sprache unterbreiten. Er schildert die grimmsche Wörtersuche mit ihrer zunächst alles andere als systematischen Zettelwirtschaft, geht aber schnell dazu über, eigene Worthalden aufzutürmen, wobei er seiner Alliterationslust vollen Lauf lässt. "Und immer ging es um Wörter wie Arbeitermitbestimmung und Kündigungsschutz für Arbeiter und Angestellte. Auch der Verlust, was schmerzte, doch sein mußte: die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Legalisierte Abtreibung, ein Reizwort. Die Abwertung, Aufwertung der D-Mark. Gestritten wurde um das Kohleanpassungsgesetz und weitere Wortungeheuer wie Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die nicht in den zweiunddreißig Bänden des von Jacob und Wilhelm Grimm in Arbeit genommenen, aber erst gut hundertzwanzig Jahre später im zum abschließenden Z gebrachten Wörterbuch zu finden sind: wie sie mir greifbar nahe stehen, so daß ich zu suchen beginne, mich festlese, mich immer wieder festlese."

Die Wörter, die Grass dabei so unterkommen, benutzt er vor allem als Stichwörter, die ihm Gelegenheit bieten, den Bogen zum eigenen Leben zu ziehen. Und da gibt es vieles zu erwähnen, zu erzählen, ins rechte Licht zu rücken: seine Begegnungen mit Willy Brandt zum Beispiel oder die Tatsache, dass ihn 1968 die DDR-Behörden zur Uraufführung des "Meißner Tedeums" des Komponisten Wolfgang Hufschmidt, zu dem er den Text geliefert hatte, nicht einreisen ließen; und natürlich seine Mahnungen vor der deutschen Einheit, die so ganz und gar falsch angepackt worden sei. Das alles ließe sich noch hinnehmen, wenn es nicht so ermüdend, so gespreizt und so manieriert formuliert wäre.

So fragt man sich, was Jacob und Wilhelm bei der Lektüre wohl empfinden würden, etwa jener Passage, in der Grass sich an ihrem Familiennamen abarbeitet: "... denn grimmig sind wir und grimmen, ergrimmen. Gepaarte Wörter hängen zusammen: wie grimmgrau und - nach Goethes 'Reinecke Fuchs' - der Dachs als grimmbärtiger Grimmbart. Noch früher sprach Konrad von Würzburg von 'grimmen herzen', Sebastian Brant von 'grimmen sinn' und im frommen Kirchenlied warnte Paul Gerhard vorm ,grimmen seelenfeind'. Nicht außer acht gelassen sein will jener Grimm, der auf den Magen schlägt und Bauchgrimmen macht."

Wohl wahr. Wenn Günter Grass seiner Liebe zu den Wörtern nachgeht, klingt das gedrechselt, wie sprachliches Kunstgewerbe. Und manchmal stößt man dabei auch auf Sätze einer schwülen Altherrenprosa, die peinlich berühren, wie etwa bei der folgenden Kostprobe: "Jacob war ohnehin dem weiblichen Fleisch entwöhnt und verkehrte oral nur mit Vokalen."

Die Gebrüder Grimm haben ihr Deutsches Wörterbuch nur bis zum Buchstaben D (Wilhelm) und F (Jacob) voranbringen können. Grass widmete diesen Buchstaben jeweils ein Kapitel und fügte nur noch drei weitere hinzu - doch das ist schon ausufernd genug. Ganz am Schluss lässt der Autor noch einmal die Brüder zu Wort kommen:

",Der sprache', zitiert sich Jacob, 'sind keine ausreichenden dämme gebaut.'

Wilhelm stimmt zu: 'Wörter wandeln sich, geben neuen Sinn, löschen einander.'

Und der ältere Grimm sagt der Sprache nach: 'sie flieszt, ufert aus, besonders die deutsche'."

Besonders bei Grass.

Günter Grass: Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung. Steidl Verlag, Göttingen, 358 Seiten, 29,80 Euro