Herman Koch schrieb mit “Angerichtet“ Europas Jahresbestseller. Nun erscheint der Roman über Liebe, Gewalt und Verrat auf Deutsch.

Hamburg. Der Roman "Angerichtet" des Niederländers Herman Koch war im vergangenen Jahr der Europäische Jahresbestseller. Nun sagt der Verkaufserfolg nicht unbedingt etwas aus, in Zeiten, wo Jugendbücher, Historienschinken oder Vampirgeschichten die Bestsellerlisten anführen, obwohl sie nicht immer das sind, was Literaturliebhaber suchen.

Kochs Roman jedoch erfüllt viele Kriterien, die bildungsbürgerliche Leser schätzen: Er spielt in ihrem Milieu, behandelt ihre Probleme, setzt sich mit ihren moralischen Maßstäben auseinander, hat zwei Paare im Mittelpunkt und ist spannend. Denn "Angerichtet" ist nur vordergründig ein Roman, in dem sich zwei einander nicht immer zugetane Ehepaare in einem schicken Restaurant zum Essen treffen - ganz so, als säßen sie in einer gehobenen Boulevardkomödie von Yasmina Reza. In Wahrheit werden die Messer gewetzt. Der Roman stellt vor allem die Frage, wie weit die bedingungslose Liebe moderner, aufgeklärter Großstadtmenschen, die gelegentlich auch zum Gutmenschentum neigen, gehen darf, soll oder muss. Denn ganz klar, die aufgeklärten Bürger, die hier im Mittelpunkt stehen, wollen korrekt sein, Vorbilder und für alle immer nur das Beste. Doch schaut man genauer hin, wollen sie natürlich nur das Beste für sich selbst.

"Angerichtet" ist ein Roman in mehreren Gängen. In jedem der sechs Kapitel - die mit Aperitif beginnen und mit Trinkgeld enden - findet eine neue Drehung des moralischen Dilemmas statt, in dem sich Paul und Claire, Serge und Babette befinden. Ursache des Dilemmas ist eine brutale Straftat, die Serges Sohn gemeinsam mit Pauls Sohn begangen hat und bei der sie von einer Überwachungskamera gefilmt worden sind. Der Film läuft auf YouTube und wird auch im Fernsehen gezeigt, aber die Jungen sind nicht zu identifizieren. Außer von ihren Eltern. Ob jeder Einzelne von den Elternpaaren allerdings wirklich erkannt hat, dass es sich bei den Gesuchten um ihre Söhne handelt, das wagen sich Mann und Frau nicht einmal voreinander einzugestehen. Schließlich könnte eine falsche Reaktion die Familie ebenso zerstören wie die Zukunft der Söhne.

Jeder fährt eine andere Strategie, um den Alltag so normal wie möglich erscheinen zu lassen. Und auch zwischen Paul und Serge, die Brüder sind, wird nicht ganz klar, wie sie miteinander über Schuld und Sühne reden sollen. So brechen sämtliche Sicherheiten ein, die diese Familie bisher hatte. Man misstraut einander. Paul Lohman, der Vater von Michel, ist bereit, für seinen Sohn weit zu gehen, sehr weit. Auch die anderen am Tisch haben ihre eigene, geheime Agenda. Während des Essens brechen die Emotionen auf, schwelende Konflikte zwischen den Brüdern entladen sich, und auf einmal steht eine Entscheidung im Raum, die drei der vier mit aller Macht verhindern wollen.

Erzählt wird aus der Perspektive Pauls, eines ehemaligen Geschichtslehrers, der wegen einer psychischen Erkrankung, bei der er unkontrollierte Wutanfälle hat, vom Beruf suspendiert wurde. Eigentlich kann er seinen Bruder Serge nicht ausstehen. Denn Serge, ein eitler Politiker, der auf dem Weg ist, der neue Ministerpräsident zu werden, grinst in jede Kamera und hält sich für moralisch und politisch überkorrekt. Denn er hat zu seinen zwei Kindern noch ein schwarzes Kind adoptiert. Doch zwischen den Kindern läuft es nicht so geschmeidig und verständnisvoll, wie es sich die Eltern gewünscht hätten. Schön ist auch eine kleine Szene, die im französischen Ferienhaus von Serge und Babette spielt. Serge schwärmt von der Natürlichkeit und Schönheit Frankreichs. Doch zu seinen Essenseinladungen, so weiß Paul, kommen nur Holländer. Mit Franzosen hat Serge nie zu tun.

Herman Koch ist Kolumnist, Komiker, Fernsehmacher und Romancier. Seit 1989 veröffentlichte er in den Niederlanden fünf hoch gelobte Romane. Seine Helden fühlen sich oft falsch verstanden, einsam, kämpfen mit ihrer Umgebung. Einer ist das Opfer der Erziehung auf einer Montessori-Schule. Andere leiden darunter, dass man sie falsch behandelt, sie wandern aus oder suchen sich gefährliche Freunde.

Einsam sind auch alle Figuren in "Angerichtet", Männer, Frauen und Kinder. Es ist eine hochmoderne Geschichte über Aufrichtigkeit und Heuchelei, über Loyalität und Verrat. Darüber, wie Männer und Frauen aneinander vorbeiagieren und dass Eltern und Kinder sich häufig missverstehen. Eine Geschichte, die sehr aufregend ist, weil sie uns so nahe kommt.

Herman Koch Angerichtet. Übers. v. Heike Baryga, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 310 S., 19,95 Euro Herman Koch liest auf dem Harbour Front Literaturfestival: am 9.9., 20 Uhr, Markthalle