Künstler, Moralist, Schwiegersohn-Typ und Regisseur des “Kettensägenmassakers“. Ein letztes Treffen mit Christoph Schlingensief, der mit 49 Jahren an Krebs starb

Man kam nicht daran vorbei, Christoph Schlingensiefs Gesicht abzuscannen, seinen Körper in Sekundenschnelle auf Anzeichen seiner Krebserkrankung zu überprüfen, wenn man ihn in den letzten Monaten traf. Gut, seine Haare hatten sich verändert. Aus der stacheligen Wuschelfrisur waren drahtige Locken geworden. Aber ansonsten konnte man erstaunt und beruhigt feststellen, dass er immer noch ziemlich gut, nicht ungesund aussah. Obwohl jedes Einatmen ein hohes Pfeifen begleitete, ein Geräusch, das gewöhnlich nur Raucher machen, die zu heftig an ihrer Zigarette ziehen. Der Regisseur und Performance-Künstler Christoph Schlingensief war Nichtraucher. Ende 2007 wurde bei ihm Lungenkrebs festgestellt, eine seltene Form, das Adenokarzinom. Kurz nach der Diagnose wurde ihm ein Lungenflügel entfernt.

Schlingensief, einer der auf- und anregendsten Künstler der vergangenen zwei Jahrzehnte, hat sich noch einmal davon erholt, war 2009 Jurymitglied der Berlinale, inszenierte Theaterabende mit mehr als 100 Mitwirkenden, wurde mit seiner Aufführung "Eine Kirche der Angst", die er sein "eigenes Hochamt für den zukünftig Verstorbenen" nennt, zum Berliner Theatertreffen eingeladen, schrieb einen autobiografischen Bestseller, "So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein" und stellte im Februar in Burkina Faso ein Operndorf auf die Beine.

Bei unserem letzten Treffen Ende April, hustete er viel, sagte aber: "Ich bin fitter, als ich vor einem halben Jahr war." Was das hieß? Er hatte weniger Schüttelfrost, Erbrechen, Schweißattacken und Bauchkrämpfe. Seltener schlimme Depressionen. Wir sprachen über seine Aufführung "Mea Culpa", die im Oktober beim zweiten Hamburger Theaterfestival im Schauspielhaus gastieren sollte, und kamen, als er in unverändertem Tonfall sagte: "Ich habe schlechte Nachrichten. Es gibt wieder Metastasen und ich muss in die Röhre", natürlich auf seine Krankheit. "Erst seit zehn Jahren kommt diese Krebsform vermehrt bei Männern um 40 bei uns vor. Die Tablette, die bei mir wirkt, wirkt komischerweise sonst nur in Asien. Ohne sie wäre ich gleich gestorben. Ich hatte ja mehr als 100 Metastasen", sagte der Regisseur. "Mein Kummer ist größer, als man mir ansieht." Es wurde ein Gespräch von drei Stunden, eines der letzten Interviews, die Christoph Schlingensief gab. Am Sonnabend ist er mit 49 Jahren in Berlin gestorben.

Schlingensief hat sich in fast all seinen ungewöhnlichen Arbeiten mit der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Kunst und Leben beschäftigt. Behinderte, Asylanten, Arbeitslose spielten in seinem Kosmos mit. Oft wurden daraus gigantische Happenings. So auch 1997, als der Entertainer und charismatische Missionar am Deutschen Schauspielhaus an sieben Tagen sein Projekt "Mission Impossible" startete, das mit Schauspielern, Obdachlosen und Dealern einen unverstellten Blick auf die Umgebung des Theaters werfen wollte.

40 Prozent seiner Arbeit seien immer Selbstdarstellung gewesen, sagte er. Talkshows gehörten dazu, die Gründung der Partei "Chance 2000" oder Aktionen wie die Einladung an vier Millionen deutsche Arbeitslose, gleichzeitig im Wolfgangsee zu baden, ihn zum Überlaufen zu bringen und dadurch das Urlaubsdomizil von Helmut Kohl zu fluten. Aber die restlichen 60 Prozent waren ein ernster, zum Teil auch risikoreicher Weg.

Tod und Krankheit, Angst, Schmerz, Verzweiflung, Kraftlosigkeit waren zu bestimmenden Themen seines Schaffens geworden. Er wollte weiter arbeiten, nach der Devise: "Abhauen geht nicht." In der Wohnung rumzusitzen war auch keine Option. Der Mann, der als Experimentalfilmer begann, nachdem er kurze Zeit der erste Assistent der TV-Serie "Lindenstraße" gewesen war, und mit Filmen wie "100 Jahre Adolf Hitler" "United Trash" oder "Terror 2000" seine Karriere begann, wurde schnell zum "schrillen Provokateur", zum "Enfant terrible" abgestempelt. Ungewöhnlich, denn Schlingensief war ein ernster, höflicher, charmanter Mann mit großer, sehr sympathischer Ausstrahlung. Ende der 80er-Jahre lernte ich im Vorzimmer von Dieter Kosslick, dem heutigen Leiter der Berlinale, der damals Chef der Hamburger Filmförderung war, zufällig Christoph Schlingensief kennen, der dort ebenfalls wartete - auf Fördergelder für seinen Film "Das deutsche Kettensägenmassaker". "Na", sagte Kosslick später, als ich endlich zu ihm ins Zimmer konnte. "Hab euch ein wenig Zeit gelassen. Das wär doch mal ein künftiger Schwiegersohn für deine Mutter." So war er also, der katholisch geprägte Apothekersohn Schlingensief, der als Moralist an Solidarität, Ehre und Mitmenschlichkeit appellierte. Ein Bürgerschreck, der in seiner Kunst die Anarchie liebte und oft als exzentrischer Witzbold falsch verstanden wurde.

In unserem Gespräch beschrieb er den Konflikt mit seinen Eltern. Er hatte Angst, ihnen seine Filme zu zeigen. "Ich konnte einfach keinen Mainstream", sagte Schlingensief, der in den 90er-Jahren beim Theater landete und schließlich 2004 in Bayreuth Wagners "Parsifal" inszenierte. "Als die Anfrage kam, hab ich es zuerst gar nicht geglaubt. Ich dachte, da seien Felix und Paola mit der 'Versteckten Kamera' am Telefon." Schlingensief kannte die Oper vorher gar nicht. Aber thematisch fühlte er sich angesprochen: "Mich hat immer schon in meinen Filmen die Frage der Erlösung beschäftigt", sagt er. "Ich habe gedacht, hier bekomme ich zum letzten Mal in meinem Leben die Chance zu beweisen, dass ich es im Kern meiner Arbeit immer ernst meine. Das ist sicher das große Problem meines Daseins, dass ich immer als unseriös, als Clown, Provokateur gelte. Ich habe mich gefragt, was in meinem Leben passiert ist, wo ich gelandet bin. Und wollte mir Rechenschaft ablegen." Damals, so glaubt Schlingensief, habe er sich zu sehr mit der Todessehnsucht in der Musik identifiziert. Es sei gefährliche Musik, die nicht das Leben, sondern das Sterben feiert. "Das ist Teufelsmusik, die einen wirklich zerreißt." Dort sei der Krebs entstanden. Eine unglaubliche These, die er später im Gespräch relativiert: "Es ist falsch, nach Schuld zu suchen. Der Krebs kommt willkürlich."

"Ich kann meine Krankheit und meine Todesangst natürlich auch verschweigen. Aber das will ich nicht. Ich will über Krankheit, Sterben und Tod sprechen", sagte Christoph Schlingensief. Alles habe sich für ihn seit der Diagnose verändert. "Ende 2007 war ich zum Drehen in Kathmandu, hatte fürchterlichen Husten. Ich habe das darauf geschoben, dass dort viele Verbrennungen von Toten stattfinden und ständig Rauch in der Luft ist, fühlte mich aber auch schon beim Klettern in der Höhenluft sehr schwach. Zu Anfang des Jahres hatte ich eine Bronchitis aus Manaus mitgebracht und bei der Arbeit in São Paulo hatte mich ein kleiner Junge ständig angehustet. Ich bin nach meiner Rückkehr aus Nepal sofort vom Frankfurter Flughafen zu einem Arzt in meiner Heimatstadt Oberhausen gefahren. Es wurde ein Röntgenbild gemacht und danach war es merkwürdig still", erzählt Schlingensief. "Ich wusste sofort, da stimmt etwas nicht."

Inzwischen komme er sich oft sehr alt vor, "wie ein 70-Jähriger, der schon viel gesehen hat. Wer durch den Abgrund einer schweren Erkrankung gegangen ist und den Tod gespürt hat, blickt mit einem anderen Abstand auf die Welt. Ich bin kein Esoteriker, aber ich beschäftige mich auch mit Ahnen. Einerseits will ich noch so viel tun, andererseits hab ich schon einen Blick ins Jenseits geworfen. Ich habe den Tod gespürt. Es ist nichts mehr wie vorher." Morgens, wenn er aufwachte, guckte er als Erstes, wo es wieder ziepte. Das Essen war ein großes Problem. Die Tablette, die er täglich einnahm, um den Tumor am Wachsen zu hindern, macht appetitlos. Er hatte nie mehr Hunger. Steak und Braten zu essen wäre eine Quälerei gewesen.

"Ich lege mir Schokolade, dickliche Fruchtsäfte und Müsli zurecht, esse Lasagne, Milchreis, alles, was weich ist und viele Kalorien hat, um noch genug Nahrung zu bekommen. Natürlich werde ich auch unsozial. Früher bin ich nach der Probe oft essen gegangen. Jetzt gehe ich lieber nach Hause. Ich muss mir meine Kräfte einteilen, aber auch die Gedanken daran, dass ich bald wieder in die Röhre muss, dass da vielleicht wieder etwas in meinem Körper wächst, die kann ich ja nicht einfach vergessen. Am Anfang, nach der Krebsdiagnose, stand ich unter Schock. Meine Frau und ich haben uns gesagt, wir schaffen das. Egal, was kommt. Mit der Zeit tritt Routine ein und eine ständige Ungewissheit. Früher hatte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal herumlag und Musik gehört habe. Heute wäre ich so froh, wenn ich herumliegen und kurze Zeit meine Krankheit einfach mal vergessen könnte. Aber ich kämpfe und hoffe, dass mein Leben weitergeht."

Am 24. Oktober wollte Christoph Schlingensief in Hamburg seinen 50. Geburtstag feiern. Dazu wird es nun leider nicht mehr kommen. Den katholischen Glauben seiner Kindheit hatte er am Ende verloren. Aber, so sagte er "für mich gibt es etwas nach dem Tod. Da ist garantiert etwas, nur es hat nichts mit dem zu tun, was wir uns vorstellen. Die Energie geht nicht verloren."