Anfang der 70er-Jahre schrieb Wheeler den ersten “Lonely Planet“ -Band. Heute sind die Bücher nicht nur bei Individualtouristen beliebt.

Einer wie er kommt garantiert etliche Stunden zu spät, denkt man. Wie, ist auch schon ganz klar: Schlammverkrusteter Profi-Rucksack auf dem Rücken, um ihn mit einem verächtlichen Schnaufen in die Zimmerecke zu werfen. Eine halbgerauchte Zigarette oder gänzlich illegale Rauchwaren in einem Gesicht aus Sattelleder. Ein Ohrring und ein grau melierter Späthippie-Pferdeschwanz am Hinterkopf. Dazu irgendeine globetrotterige Erklärung, warum der gottverdammte Frachtflieger aus Timbuktu ausgerechnet an diesem Dienstag viel mehr Verspätung als sonst gehabt hatte. So müsste einer aussehen, der seit mehr als drei Jahrzehnten professionell rund um die Welt unterwegs ist und knapp 150 Länder besucht hat. Denkt man sich.

Doch Tony Wheeler kommt von zuhause - er hat auch hier in London ein Haus - und ist mit dem Fahrrad da. Einem dieser Räder, die man sich neuerdings überall in London ausleihen kann. Und mit Sicherheitshelm. Fast auf die Minute pünktlich, entschuldigt er sich ausgiebig für die Verspätung. Freundlich, bleich, schmächtig. Sehr britisch. Das Crocodile-Dundee-Klischee wandert also wieder zurück in seine Schublade.

Der 1946 geborene Wheeler ist eher der Typ gediegener Erdkunde-Oberstudienrat mit Reihenhaus und Hobbykeller und Pensionsgrenze in Sichtweite. Einer, der mit einem Fahrrad, ob geliehen oder nicht, erst dann bei Rot über die Ampel fahren würde, falls sein Leben davon abhängen sollte. Einer wie wohl viele seiner Kunden. Ein Pauschal-Individualist.

Das Londoner Büro von "Lonely Planet" befindet sich auf einer Büro-Etage im wenig glamourösen Teil von Islington, eine Straße weiter liegt "Fifteen", das fast unauffindbar kleine Restaurant von Star-Koch Jamie Oliver. Wenigstens ein Hauch großer Welt in dieser überschaubaren. Den Rest erläutern einem die Bücher aus Wheelers Reiseführer-Verlag, seit mehreren Jahren gibt es auch deutschsprachige Ausgaben. Hinter dem Empfangsschreibtisch der "Lonely Planet"-Zentrale hängt eine Weltkarte, mit Fotos von glücklich strahlenden Mitarbeitern und ihren nächsten Reisezielen auf so ziemlich allen Kontinenten. Schon da kann man neidisch werden.

Alle paar Monate kommt Wheeler aus Melbourne, wo der Engländer seit langem seinen Hauptwohnsitz hat, vorbeigeflogen, oder aus einer der gängigen anderen Himmelsrichtungen. Bei anderen Unternehmen dieser Größe wäre garantiert hektischer Großalarm angesagt, wenn der Chef mit Anwesenheit droht. Doch von den vielen jungen Leuten hier wird der Firmengründer in Jeans und Pullover kaum wahrgenommen. Der ist halt da, möchte ein Glas Wasser im Besprechungsraum und ansonsten keine Umstände machen. Was ganz gut zur Philosophie seiner Produkte passt, die helfen sollen, überall mit dem Nötigsten klar zu kommen.

Der Markennamen ist übrigens ein Hörfehler Wheelers bei Joe Cockers Song "Space Captain", in dem der "lovely" und nicht der "lonely planet" besungen wurde."Die Welt ist ein Buch, wer nie reist, sieht nur eine Seite davon", hatte der Philosoph Aurelius Augustinus schon vor Jahrhunderten erkannt. Tony Wheelers Kunden haben sich diese Erkenntnis zu Herzen genommen und wollten möglichst viele Seiten entdecken. Sie wollten raus aus der Norm und ganz weit weg. Aber nur dahin, wo die pauschalverpackten Neckermänner und -frauen dieser Welt nicht sein wollten, schon deswegen, weil der Norm-Urlaub dafür nicht reichte.

Indien, Asien, Australien sollten es sein, gern monatelang. Am liebsten so gut wie umsonst. Drogenerfahrungen wurden damals nicht allzu strikt abgelehnt. "Ich war niemals ein Hippie", sagte Wheeler später und amüsiert sich auch bei unserem Gespräch noch über die Vorstellung. "Als wir das erste Buch schrieben, war das in der Ära des Hippie Trail. Ich habe auch nie Drogen genommen, aber es war eine wunderbare Zeit." Da ist er wieder, der nette Erdkunde-Lehrer von nebenan.

Ein cleverer Geschäftsmann ist er aber auch. Wheelers Kunden sorgten dafür, dass er zu einem der erfolgreichsten - und reichsten - Männer der Tourismusbranche wurde. Seine Firma hat rund 450 Mitarbeiter und etwa 220 "reisebesessene" Autoren, die durch alle Herren Länder stromern, Fakten prüfen oder aktualisieren, gesteuert von den Niederlassungen in London, Melbourne und Oakland. Für Generationen von Rucksacktouristen aller Alters- und Gehaltsklassen sind die "Lonely Planet"-Reiseführer die Backpacker-Bibel. Das Buch der einfachen, praktischen Weisheiten, nach wie vor. Wer wissen will, wo in Peru man nicht nur günstig, sondern auch gut übernachten kann, wird dort fündig. Wäschewaschen in Bulgarien? Zahnschmerzen auf Madagaskar? In aller Regel kein Problem. Nachschlagen sollte genügen.

Bislang wanderten rund 100 Millionen Exemplare dieser Guidebooks in Reisegepäck und von dort aus, liebevoll zerfleddert, als Souvenir des privaten Ausbruchs aus der gesellschaftlichen Norm ins heimische Bücherregal. Es gibt kein Land auf diesem Globus, das nicht in einem dieser "guidebooks" erwähnt wird. Manche allerdings machen politisch bedingte Veränderungen durch. Zimbabwe war dem Verlag früher einen eigenen Band wert; inzwischen, heruntergewirtschaftet und berüchtigt, ist es nur noch ein Kapitel im Afrika-Band.

2007 kaufte eine kommerzielle Tochterfirma der BBC 75 Prozent des Unternehmens auf (angeblich für etwa 90 Millionen Pfund) und möbelte die Produktpalette multimedial weiter auf: TV-Sendungen und ein User-Forum im Internet mit Foto-Album-Möglichkeit für unterwegs gehören dazu. Sprachführer sind im Sortiment, aber auch Speziallektüre wie der von Wheeler zusammengestellte Band "Bad Lands", eine Reise entlang der Achse der Bösen. Digitale Reiseführer-Destillate für das iPhone gibt es und seit Kurzem auch fürs iPad, allerdings nur für gut erschlossene Länder wie Frankreich oder Italien. Es wird also wohl noch dauern, bis ein Rucksack-Reisender mit einem solchen Gerät in der Hand irgendwo in der mongolischen Steppe nach einer günstigen Herberge sucht.

Wer will, kann sich Bücher kapitelweise kaufen, je nach Bedarf und Reiseroute als Download für Kleingeld. Alles, um das Hase-und-Igel-Rennen gegen das Internet nicht zu verlieren. Die romantische Vorstellung, solche Reiseführer würden einen tatsächlich mit echten Geheimtipps versorgen, ist mehr als je zuvor illusorisch. Wo immer man auch strandet - irgendjemand mit Internet-Zugang war garantiert schon da und hat seine Meinung auf irgendeiner Seite hinterlassen. Nachdem der Schock des 11. September tiefe Einbrüche im Geschäft hinterlassen hat, kam mit der Weltwirtschaftskrise ein weiterer Dämpfer für die globale Reiselust. Der Markt ist hart umkämpft, doch um die Zukunft seiner Branche ist Wheeler nicht bang: "Irgendwer wird immer rausgehen müssen, um Dinge herauszubekommen und zu überprüfen."

"Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen", wusste schon Goethe. Doch die wirklich weißen Flecken auf dem Globus sind selten geworden. Echter Individualtourismus ist kein frommer, aber ein reichlich unmöglicher Wunsch. "Die wirklichen Entdecker sind uns nach wie vor weit voraus", findet Wheeler. "Aber das macht auch keinen Unterschied. Wenn man auf dem Gipfel des Mount Everest steht, ist der Blick für jeden von uns genau so gut, wie er für Edmund Hilary war. Man muss nicht der Erste sein, um etwas Fantastisches zu erleben."

Das allererste Exemplar ihrer Reiseführer entstand, so die Legende, am Küchentisch der Wheelers. Das frisch verheiratete Ehepaar - er ein Ingenieur, sie eine Versicherungssekretärin aus Belfast - war 1972 mit einer Handvoll Geld von London aus kreuz und quer durch Asien bis nach Australien unterwegs gewesen. Nach einem Jahr waren sie dort, in der Reisekasse befanden sich angeblich noch 27 Cent. Ihre Kamera versetzten sie. Aber die beiden waren um so viele praktische Erfahrungen und skurrile Erlebnisse reicher, dass sie "Across Asia on the Cheap" aus ihren Tagebuchnotizen zusammentippten, mit eigenen Zeichnungen anreicherten und im Selbstverlag herausbrachten.15 000 Exemplare, 94 Seiten für 1,80 Dollar das Stück, waren in einer Woche weg. Die Verkaufserlöse finanzierten die nächsten anderthalb Jahre Wegsein, am Ende entstand "South-East Asia on a Shoestring" (Südostasien mit wenig Geld) Mittlerweile hat Wheeler mehr als 20 Bücher geschrieben oder mitverfasst.

"Touristen wissen nicht, wo sie waren. Reisende wissen nicht, wohin sie gehen." Das Zitat des für seine Miesepetrigkeit bekannten Reiseschriftstellers Paul Theroux sorgt bei Wheeler für ein entspanntes Lächeln. So kategorisch sollte man das nicht sehen, findet er. "Sobald wir in Übersee sind, sind wir alle Touristen." Nicht nur der Profi-Tourist Wheeler ist in die Jahre gekommen, auch seine Kundschaft ist älter und wohlhabender. Bildungsbürgerlich beflissen wie der klassische deutsche "Baedeker" oder Mainstream-familienfreundlich wie die amerikanischen "Frommer's"-Bände sind die "Lonely Planet"-Bücher nach wie vor nicht. Aber Luxus-Hotels, schicke Restaurants oder Golfplätze sind nichts, worum beim Kundendienst im Service-Teil noch verächtlich Bogen gemacht werden. Reisen und reisen lassen, ist nun die Devise.

Einen "Lonely Planet"-Band im Koffer und gleichzeitig eine üppig gefüllt Reisekasse zu haben, darin sieht Wheeler keinen Widerspruch. "Viele unserer Kunden machen Dinge nicht auf dem Komfort-Niveau, das ihnen ihr Reichtum ermöglichen würde." Wer Geld mitbringt, sorgt für Veränderung. Nicht immer und nicht überall zum Besseren. Vor einigen Jahren noch unberührte Traumstrände sind inzwischen mit billigen Bettenburgen zugebaut. Wheelers Haltung dazu: "Tourismus tut so etwas. Aber wenn man beispielsweise mit Menschen in Bali spricht, sagen die einem: Vor 30 Jahren war ich froh, dass ich ein Fahrrad hatte, in meinem Dorf gab es keine Elektrizität. Jetzt habe ich ein Auto, meine Kinder bekommen eine gute Ausbildung. Wir sagen dann gern, früher sei alles besser gewesen, ruhig und unberührt. Eine Schande, dass es jetzt nicht mehr so ist. Aber das ist unsere Perspektive. Als ich das erste Mal in Singapur war, war das Land noch dabei, sich zu entwickeln. Jetzt ist das Pro-Kopf-Einkommen dort höher als in Großbritannien. Völlig anders, aber immer noch sehr interessant."

Es gab Zeiten, in denen Reisen noch wirkliches Abenteuer war, riskant, lebensgefährlich womöglich. Der amerikanische Abenteurer Daniel Boone (1734-1820) meinte, er habe sich zwar nie wirklich verloren gefühlt, aber etwa sechs Wochen lang ein wenig verwirrt. Mit solchen Geschichten kann Wheeler, so leid es ihm auch tut, nicht aufwarten. Auf einer australischen Skipiste sei er mal ein wenig vom Weg ab- und viel zu spät bei seinen Kumpels angekommen, das war es aber auch mit dem Thema Abenteuer.

Wer quasi überall war, dem fällt zu Hamburg was ein? "Die künstlichen Strände, eine sehr sonderbare Idee", entgegnet Wheeler. "Sehr lustig!" Auf Platz zwei landen die Beatles, wegen ihrer historischen Verbindung zu Hamburg. Ganz Gentleman, denkt er auch bei der Reeperbahn zunächst an die Band aus Liverpool und nicht an Naheliegenderes.

Bei den Fragen nach sonstigen globalen Vorlieben und Abneigungen bleibt Wheeler im erwartbaren Rahmen. Sein liebster Ort ist entweder eine Flughafen-Lounge vor dem Abheben, weil es dann losgeht, oder Nepal, die Region, in die er wegen der Wandermöglichkeiten so oft zurückgekehrt ist wie in keine andere. Beim langweiligsten aller Orte liegt Des Moines, Iowa nach wie vor sehr gut im Rennen, grinst er. Auf einen dieser mit Luxus-Kreuzfahrtdampfer würde er nach wie vor nicht wollen. Doch im Laufe der Jahrzehnte hat er gemerkt, dass man sich ohnehin an fast jedem Ort wohlfühlen kann. "Es gibt so viele Ähnlichkeiten. Andererseits: Man geht nach Frankreich - und die Franzosen sind immer noch Franzosen."