Gernot Wolfram, der neue Inselschreiber von Sylt, entdeckt auf der Nordseeinsel das typisch Deutsche: erst rau, dann ganz sanft.

Rantum/Sylt. Der Oktopus ist schuld. Nicht Paul, das Tierorakel der Fußball-Weltmeisterschaft . Sondern ein unglücklicherer Artgenosse, den es in Griechenland erwischt. Mit großen Augen wartet er darauf, zu einer schmackhaften Mahlzeit verarbeitet zu werden. Und das bedeutet: Gegen eine Wand geschlagen zu werden, bis das Fleisch weich ist, dann zerschnitten und gekocht. Kein Wunder, dass der Beobachter der Szene kaum davon essen mag und dass er nachts davon träumt, wie die geschundene Kreatur wieder zusammenwächst, verletzt, an den Schnittstellen vernarbt.

"Vielleicht ein gutes Gleichnis für das, was manchmal, durchaus schmerzlich, auch beim Schreiben passiert: Erfahrenes beobachten, analysieren, sezieren, und neu zusammensetzen", sagt Gernot Wolfram, 34. Mit dem Text "Die Begegnung mit dem Oktopus" hatte sich der Berliner Schriftsteller im vergangenen Jahr als Inselschreiber von Sylt beworben - so wie 200 andere Schriftsteller auch. Wolframs Text hat die Jury überzeugt.

Und da sitzt er nun, Wanderer zwischen vielen Welten, und beobachtet statt des Kraken Seesterne und Sylt-Urlauber. Er ist gerade eine paar Tage da, zum ersten Mal überhaupt, und noch ein bisschen erschlagen von den ersten Eindrücken: "Der Reichtum, der hier so selbstverständlich zur Schau gestellt wird, ist schon gewöhnungsbedürftig." Wolfram, Jeans, dunkelblaues Polohemd, Anderthalb-Tage-Bart, hat seine Umwelt genau im Blick und formuliert präzise.

Er sieht immer ein bisschen mehr als andere: eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit, Zweifel hinter Sicherheiten. Er schreibt gern Zwischentöne, die Unsicherheiten markieren. Den Sinn dafür hat ihm seine Kindheit im sächsischen Zittau geschärft, die Situation in seiner Familie, die wegen ihrer religiösen Wurzeln zu den Oppositionellen gerechnet wurde. "Da wurde zu Hause anders gesprochen als draußen, wenn man unter Leuten war."

Ganz zart schimmert noch manchmal eine sächsische Sprachfärbung durch wie eine Erinnerung, die bleiben wird. Ihm fällt die Geschichte aus dem DDR-Kinderkurheim ein, wo jeder als Nachmittagsbeschäftigung eine Geschichte schreiben sollte. Er schrieb eine - nur spielte die in Amerika. "Die zeigen wir besser nicht dem Kurleiter", entschied ängstlich die Betreuerin.

1988, noch vor der Maueröffnung, bewilligten die Behörden die Ausreise aus der DDR. "Der Vater meiner Mutter lebte im Westen, er musste erst sterben, bevor wir raus durften." Aus Zittau kam er nach Weiden in die Oberpfalz, 13 Jahre alt. Dort registrierte er erstaunt, dass er ernsthaft gefragt wurde, weshalb er so gut Deutsch spreche - "die dachten wohl alle, in der DDR spricht man nur Russisch." Fremdheitserfahrung also auch hier. Sie führte ihn, nach dem Studium in Tübingen und Berlin, in eine reiseintensive Doppelexistenz. Wolfram arbeitet neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit drei Tage an der Fachhochschule im österreichischen Kufstein als Professor für Kulturwissenschaften. Gelegentliche Ausflüge in den Journalismus und zum Schreiben fürs Theater nicht ausgeschlossen. "Die sechseinhalb Stunden Fahrtzeit sind jedes Mal eine willkommene Auszeit, die hab ich zum Arbeiten und Lesen."

Das Lehren ist für ihn ein Traumjob. "Meine Studenten zwingen mich, ganz genau in Worte zu fassen, was ich meine. Hier zählt unmittelbar das gesprochene Wort." Der Schriftsteller profitiert davon. "Dr. Jekyll und Mr. Hyde-Existenz" nennt er das ironisch.

Schriftsteller? Das Wort hört er nicht gern, wenn es um ihn selbst geht. Auch mag er große Teile des Literaturbetriebs nicht mit seinen Eitelkeiten und Lautsprechern. "Der von Bertolt Brecht geprägte Begriff 'Aufschreiber' trifft es besser für mich. Das ist nicht so aufgeladen und besitzt ein Augenzwinkern." Er sieht sich als jemanden, der Dinge aufschreibt, sie festhält - Beobachtungen, die in der Hektik und Unachtsamkeit des Alltags untergehen, die aber auch Bedeutung tragen - wenn man sie aufschreibt und damit andere berühren kann. Es sind Begegnungen wie die mit einem alten Chinesen, Maos Deutsch-Dolmetscher, den er in Berlin traf - eine verwehte Existenz, vom Leben und der Politik gebeutelt, die in dem Bemühen lebt, Würde und Sinn in den Brüchen des eigenen Lebens zu finden. Daraus werden Erzählungen wie "Am Radio", in der er die Geschichte dieses Mannes festhält.

Und da ist dann noch sein neuer Roman, der im Frühjahr 2011 erscheinen soll. "Das Wüstenhaus" erzählt vom Terroranschlag, der 14 deutschen Touristen in der alten Synagoge der tunesischen Ferieninsel Djerba das Leben kostete. "Keine Abrechung mit dem islamistischen Terror, eher eine deutsche Innensicht der Dinge, die dazu geführt haben, die Geschichte zweier Menschen, die der Anschlag schicksalhaft miteinander verbindet." Entstanden ist das Manuskript im mediterranen Licht einer griechischen Insel. Launisch und widerspenstig sei das Buch noch; er will etliche Kapitel auf Sylt überarbeiten. Acht Wochen wohnt er als Inselschreiber in Rantum, auf dem Gelände der Sylt-Quelle, die jährlich den Inselschreiber kürt, das Meerkabarett betreibt, Ausstellungen organisiert und die umliegende Landschaft mit Kunstwerken bereichert.

Der Inselschreiber erhält neben 5000 Euro Preisgeld auch die Möglichkeit eines Aufenthalts in Südafrika. "Kultur wird hier mit großer Leidenschaft gefördert", freut er sich. Zwei Wochen im Sommer wird er auf Sylt sein, und sechs im Winter, wenn die Insel ganz anders ist, verschlossener, geheimnisvoller.

Wird er auch über Sylt schreiben? "Mal sehen", sagt Gernot Wolfram - und hat doch schon angefangen. Auf den Facebook-Seiten seines Verlags ( www.facebook.com/deutscheverlagsanstalt ) hat er ein Inseltagebuch begonnen. In den Texten erscheint Sylt in Stimmungen der Natur, im Licht der weiten Landschaft.

Seine griechische Freundin hat das Meer vor Sylt und das ihrer Heimat verglichen: Im ersten Moment könnte man glauben, es sei sehr rau, aber wenn man länger hinschaut, zeigt es auch ein großes weiches Blau. Wolfram spinnt den Faden weiter: "Ich denke: Sie hat recht, es ist, so gesehen, ein typisches deutsches Meer. Die sanfteren Seiten muss man bei uns erst entdecken." Er wird es tun, mit wachen und skeptischen Augen, und sein großes Thema, das abgründigste und überraschendste immer wieder, das werden auch hier die Menschen sein.