Glasklarer Familienroman: Harriet Köhlers “Und dann diese Stille“

Die 33-jährige Autorin Harriet Köhler betrat vor drei Jahren mit einem Paukenschlag die literarische Bühne. Ihr Debütroman "Ostersonntag", in dem sie den Verfall einer Familie nachgezeichnet hat, stieß auf ein beachtliches Medienecho. In ihrem zweiten Roman "Und dann diese Stille" steht wieder die Familie im Zentrum, erweitert um eine historische Komponente.

Es geht um Walther, Jürgen und Nicki - Vater, Sohn und Enkel -, Mitglieder der typisch kleinbürgerlichen Familie Augustin. Walther hat die neunzig längst überschritten, als seine Frau Grethe stirbt und Sohn Jürgen, pensionierter Ingenieur, wieder ins Elternhaus einzieht, um sich seinem Vater zu widmen. Der alte Augustin, der erst zehn Jahre nach Kriegsende aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt war, lehnt die Fürsorge seines Sohnes energisch ab. Zwischen beiden herrscht ein Klima des eisigen Schweigens und Verschweigens. Die Traumata des Zweiten Weltkriegs reichen bis in die Gegenwart und haben Risse hinterlassen.

Vater Walther wird schubweise von den Erinnerungen an schreckliche Fronterlebnisse heimgesucht, sein Sohn Jürgen musste miterleben, wie die Mutter von Rotarmisten vergewaltigt wurde. Nie wurde darüber geredet. Harriet Köhler erweist sich als subtile Beobachterin. Ihre Menschenbilder sind präzise und scharf konturiert, ihre Sprache kristallklar, und die Dramaturgie erinnert durch ihre wohlplatzierten Spannungselemente an einen Thriller. Ihr Thema ist die Sprachlosigkeit und die verborgenen Mechanismen, die deren Fortpflanzung über Generationen hinweg begünstigen.

Enkel Nicki, der die beiden besucht, hat sogar beruflich mit der Stille zu tun. Als Klangdesigner eines Automobilkonzerns ist er damit beschäftigt, Geräusche im Innenraum abzumildern, damit der Kunde sich fühlt "wie umarmt von einer großen Stille". Aber auch Nicki ist ein stiller, introvertierter, vielleicht sogar egoistischer Typ. "Lebende Standbilder, Ehrensäulen, unemotional, unbeirrt, immer schöntun, als ob nichts wäre, so waren sie" - Vater und Großvater aus Nickis Perspektive betrachtet.

Harriet Köhler hat mit diesem erschütternd-realistischen Roman bewiesen, dass hier nicht nur eine ausgesprochen talentierte Autorin mit ausgeprägtem Gespür für brisante Themen schreibt, sondern dass sie auch eine psychologisch versierte, vorzügliche Menschenkennerin ist.

Harriet Köhler: Und dann diese Stille, Kiepenheuer und Witsch Verlag, 314 Seiten, 19,95 Euro.