Die “Sommerlügen“ aus Bernhard Schlinks besseren Kreisen bereiten ein exzellentes Lesevergnügen

"Sommerlügen" nennt Bernhard Schlink die Lebenslügen, von denen er in sieben Geschichten erzählt. Im Sommer wiegen sie leichter als in der dunklen Jahreszeit. Aber sie rühren immer an den Kern, handeln von Liebe und Tod, zeigen einen ausreichend großen Lebensausschnitt ihrer Protagonisten, laden ein zum Kopfschütteln, zu Empathie, leben vom Zweifel und lassen einen manchmal verzweifeln.

Der Geschichtenband beginnt mit "Nachsaison", in der ein Flötist aus New York und eine Millionärserbin und Unternehmerin von der Westküste am Cape zusammenkommen. Er lebt in eher bescheidenen Verhältnissen, und sie kann aus dem Vollen schöpfen, tut das aber diskret. Am Ende des Sommers wollen sie zusammenbleiben, und ihm wird die Entscheidung abgerungen, ob er sich mit dem neuen Leben in der 5th Avenue arrangieren werde. Entscheidet er sich für die Lebenslüge?

Eine "Nacht in Baden-Baden" verbringt ein Theaterschriftsteller nicht mit seiner festen Freundin, die in England Recht aus feministischer Sicht unterrichtet, sondern mit einer heimlichen Gefährtin. Die Juristin, notorisch eifersüchtig, kommt ihm auf die Schliche, und er verstrickt sich in allerlei Lügen, sodass er selbst die ihn entlastende Wahrheit verdreht - ein Tanz um die Wahrheit, der nach einer vorletzten Umdrehung gerade noch einmal gut ausgeht. "Das Haus im Wald" in den Neuenglandstaaten wird von einer sehr erfolgreichen Schriftstellerin und einem obsessiv liebenden, weniger glanzvollen Autor und ihrer kleinen Tochter bewohnt. Er will sie vom Trubel des Erfolgs abschirmen, zwingt sie mit Lügen durch das Unterlassen einer wichtigen Mitteilung zu einem Unfall und erpresst sie dann zum Bleiben. Ob aus dieser belasteten Beziehung neue Literatur entstehen kann?

Es folgen noch eine - allfällige? - Krebsgeschichte mit einem aus Angst vor Schmerzen geplanten, schließlich verhinderten Selbsttötungsprogramm; eine Generationenkonfliktgeschichte über den vergeblichen Versuch, den Vater endlich zum Reden zu bewegen; die fast ins Absurde schwappende Story vom orientalischen Handel mit europäischen Frauen und eine "Reise in den Süden".

Schlinks Geschichten ereignen sich hierzulande, in Amerika oder auf dem Transatlantikflug. Der 1944 in Bielefeld geborene Autor des in aller Welt geschätzten Romans "Der Vorleser" lebt in Berlin und New York. Er ist Jurist, und ein paar Figuren seines "Sommerlügen"-Personals gehören auch dieser Berufsgruppe an. Alles spielt sich in sogenannten besseren Kreisen ab - diese erlesenen "Sommerlügen" scheinen Schlink selbst begegnet zu sein.

Mit seiner lakonischen Ironie erreicht Schlink die Wirkung US-amerikanischer Storyteller. Man könnte an Annie Proulx denken, die ihre Figuren nicht aus dem Jetset zwischen New York und Europa sucht, sondern im wilden Wyoming. Aber Schlinks Casting aus der oberen Mittelklasse bringt deren gepflegte Verlogenheit hinter aller situationsbedingter Notlügenlage doch auf den Punkt. "Sommerlügen" sind auch ein gesellschaftlicher Befund - neben dem Lesevergnügen, das sie bereiten.

Bernhard Schlink: Sommerlügen. Diogenes, 279 Seiten, 19,90 Euro