In seinem vielschichtigen Thriller “Inception“ nimmt Leonardo DiCaprio die Kinofans mit auf eine Achterbahnfahrt ins Unterbewusste.

Das Kino als gigantische Traumfabrik - vielleicht hat kein Regisseur diesen Anspruch je so ernst genommen wie das britische Regie-Wunderkind Christopher Nolan, auf dessen Schultern alle Hoffnungen Hollywoods ruhen, die beiden Pole Intelligenz und großes Publikum zu verbinden.

In dem erzählformsprengenden "Memento" hat er den albtraumhaften Trip eines Helden mit Gedächtnisstörung beschrieben, in dem düsteren Al-Pacino-Thriller "Insomnia" die Folgeschäden einer Schlafstörung in dichte Bilder übersetzt. Mit "The Dark Knight" hat Nolan die "Batman"-Serie komplett neu erfunden und ihr einen überhöhten, wenn auch zutiefst pessimistischen Anstrich verpasst, der eine kongeniale Figur wie Heath Ledgers Joker überhaupt erst möglich machte.

Die Regeln, nach denen das Kino üblicherweise funktioniert, gelten für Nolan nicht. Sie galten noch nie weniger als im Fall von "Inception" (Anfang, Anbeginn), seinem neuen, rund 160 Millionen teuren Science-Fiction-Thriller, der ab Donnerstag in Deutschland offiziell startet. In den USA lief der Film auf etwa 4000 Leinwänden an und besetzte unmittelbar nach dem Start Platz eins der Kinocharts.

+++ Inception: Let's watch the English version +++

Nolan begibt sich erneut an jenen brüchigen, geheimnisvollen Ort des Unterbewusstseins, an dem die Regeln der Wirklichkeit außer Kraft gesetzt sind. Raum, Zeit, physikalische Gesetze - nichts Vertrautes, das hier zählte. DiCaprio spielt Dom Cobb, einen begnadeten Dieb auf heiklem Gebiet: Er schleicht sich in den Verstand von Menschen ein und klettert darin herum wie in einem Baum; er manipuliert ihre Träume und Wünsche, schafft falsche Erinnerungen. Nicht etwa zum Spaß, sondern im Auftrag milliardenschwerer Industriespione: Cobb soll im Kopf eines Unternehmererben einen Gedanken implantieren, der sich virusgleich ausbreitet und Ideen freisetzt, die unter normalen Verstandsbedingungen niemals möglich wären.

Immer schon ging es im Kino um die Überschreitung von Grenzen. Genauso ist der Zuschauer seit jeher fasziniert von Helden, die sich an nichts mehr erinnern, die sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit machen. Matt Damon spielt in "The Bourne Identity" einen gedächtnislosen CIA-Killer, Leonardo DiCaprio sah man bereits im Februar als traumatisierten Anstaltinsassen in Martin Scorseses "Shutter Island" - wohl deshalb, weil kein anderer Schauspieler mitreißender an der Schwelle zum Wahnsinn balancieren kann als der smarte Frauenschwarm.

So verschroben und vertrackt "Inception" einerseits daherkommt, eine Kinokopfgeburt im positiven Sinne, so zeitgemäß ist er auf der anderen Seite. Kreist er doch um die Frage, wie fragil unsere Identität ist. Was ist noch sicher im Leben angesichts von Terror, Krieg und Wirtschaftskrise? Zudem ist der Gedächtnisverlust aus Zuschauerperspektive auch ein Glücksversprechen: Die Alltagssorgen hinter sich lassen, abtauchen in eine andere Welt, unliebsame Erinnerungen auslöschen - wer möchte das nicht manchmal? In der Figur Dom Cobb erkennen wir uns selbst. Unsere Schattenseiten. Ein traumatisierter Held, der gegen seine verschütteten Erinnerungen, seine Schuldkomplexe ankämpft - das ist eine substanzielle, sehr moderne Männerfigur, die das Blockbuster-Kino oft vermissen lässt. Eine Figur, die weiß, dass ihre innere Natur der größte Feind ist, und im tiefsten Herzen nur eines will: endlich nach Hause kommen. Zu seinen beiden Kindern.

Es braucht eine Weile, bis man überhaupt etwas von dem großen Bogen ahnt, den Christopher Nolan schlägt. Doch erstaunlicherweise ist das Publikum - anders als beim Fernsehprogramm - bereit, dem Gedankenmikado des Regisseurs selbst dann zu folgen, wenn sich die Regeln dieser Welt nur erahnen lassen. Seine komplexen Traumwelten paart Nolan mit gängigen Schauwerten. Es gibt Explosionen, Erdbeben, Feuerbälle, einstürzende Neubauten. In einer Szene kippt die Stadtsilhouette von Paris mal eben auf den Kopf und zieht den Protagonisten im wahrsten Sinne den Boden unter den Füßen weg. Auf der anderen Seite sind da, ganz klassisch: die Sehnsucht nach der großen Liebe, nach Familie und der Wunsch, seinen Platz in der Welt zu finden.

Der Erzählraum bei "Inception" ist mitnichten so leer wie im Horror- oder Actionkino gemeinhin üblich, er begnügt sich nicht mit einem Aha-Effekt wie etwa Night Shyamalans "The Sixth Sense". Christopher Nolan ist kein Kinofantast wie seine Kollegen Tim Burton oder Terry Gilliam. Er ist, wenn man so will, der Prophet des intelligenten Blockbusters. Er packt das Publikum dort, wo es am verletzlichsten ist: bei seinem Verstand. Er spielt mit dem, was wir am liebsten in dunklen Ecken vergraben wissen wollen: unsere Obsessionen, Erinnerungsgefängnisse und paranoiden Ängste. Traumdimensionen und Parallelwelten sind die (Nicht-)Orte, an denen Christopher Nolan zu Hause ist.

Der 39 Jahre alte Regisseur navigiert uns auf einer filmischen Odyssee mit den Mitteln der Psychoanalyse, der griechischen Mythologie (nicht umsonst heißt die weibliche Hauptfigur Ariadne) und der modernen Hirnforschung zu einem Actionthriller, der als Achterbahnfahrt ins Unterbewusste beginnt. Die Richtung, die gleich zu Anfang vorgegeben wird, entspricht nicht dem horizontalen Bewegungskino, sondern folgt dem in Filmsprache übersetzten psychoanalytischen Lehrsatz: "Wir müssen in die Tiefe gehen, um weiterzukommen!"

Nolan nimmt das viel beschworene Diktum ernst, dass das beste Kino im Kopf stattfindet. Er braucht keine 3-D-Spektakel, reduziert Computereffekte auf ein Minimum - und erschafft doch unglaubliche Stadtlandschaften, fantastische Festungen auf schneebedeckten Bergen, perfide Traumwelten. Alles angeblich ausgetüftelt in seiner Garage in den Hollywood Hills. In diese Kulissen schickt der Regisseur sein furioses Ensemble: Joseph Gordon-Levitt, Ellen Page und Tom Hardy spielen DiCaprios Teamkollegen - eine Gruppe von Gentlemen-Dieben, eine Art "Ocean's Eleven" auf fantastischer Mission.

Wer Spaß daran hat, findet in "Inception" Anspielungen auf freudsche Traumdeutung, Wim Wenders' "Bis ans Ende der Welt", Alain Resnais' "Letztes Jahr in Marienbad", Kubricks "2001" und die "Matrix"-Filme. Wer es direkter mag, lehnt sich zurück und folgt DiCaprio auf seiner Tauchfahrt in die Abgründe der Seele bis hin zum wunderbar bösartigen Widerhaken-Ende, das erneut alles infrage stellt: Ist alles doch nur ein Traum gewesen, in dem der Protagonist auf ewig gefangen bleibt?

Die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, hat der Dichter Jean Paul einst geschrieben. Christopher Nolan ist angetreten, auf der Leinwand das Gegenteil zu beweisen.

Inception Preview Mi 28.7., Streit's OF (U Jungfernstieg), Jungfernstieg 38, Karten 8,-/9,- ; Abaton OmU (MetroBus 4/5), Allende-Platz 3, Karten 5,50