Peter Stein und Klaus Maria Brandauer machen in Salzburg die griechische Tragödie “Ödipus auf Kolonos“ zum Ereignis.

Salzburg. Das soll eine richtige griechische Tragödie sein? Da fließt kein Blut, niemand wird gerächt oder geschändet, und wenn einer stirbt, mündet der Tod sofort in Verklärung. "Ödipus auf Kolonos", das letzte Drama des uralten Sophokles, taugt wahrlich nicht zum Reißer. Selbst der Antikenkenner Peter Stein nennt das Werk "furchtbar lang und langweilig", einen "schweren, zum Teil schleppenden Abgesang". Warum inszenierte er es dann? Naturgemäß aus blankem Egoismus. Weil es ihn schon immer fasziniert hat und weil er als einziger daraus einen faszinierenden Abend zu machen imstande ist: eine denkwürdige Salzburger Festspielpremiere. Ab 25. August wird die Produktion auch an Peymanns Berliner Ensemble in ihrer grandiosen Kompromisslosigkeit gastieren.

Diese pausenlose Dreistundenaufführung ist die schönste Zumutung, die das deutschsprachige Theater derzeit zu bieten hat. Eine leise, wie absichtslose Provokation heutiger Bühnensitten und -gebräuche. Völlig auf Wort und Gebärde konzentriert, in Peter Steins trefflicher Übersetzung stets getreu dem Geist und Klang des Originals, von Sophokles' Abschiedssymfonie. Nichts wird hier vermeintlich aktualisiert, vorschnell an die Gegenwart herangerückt. Der Text wirkt fern und nah zugleich; seine unversehrte Botschaft erreicht uns auch nach zweieinhalb Jahrtausenden. Das Welt- und Menschenbild der Tragiker, ihre Mythen erweisen sich jenen der Postmoderne keinesfalls als unterlegen.

Im Grunde ist die Geschichte des "Ödipus auf Kolonos", die Fortsetzung des ersten klassischen Kriminalstücks "König Ödipus", eher Oratorium als Drama. Unwissentlich hat Thebens Herrscher die strengsten Tabus gebrochen: seinen Vater getötet, mit der eigenen Mutter Kinder gezeugt. Der Richter musste sich in dem von ihm durchgeführten Aufklärungsprozess als Täter erkennen. Nachdem der schuldlos Schuldige endlich der Wahrheit in die Augen geblickt hatte, stach er sich in seinem Scham und Schmerz die Augen aus. So weit, so schlecht.

An der Hand der Tochter Antigone gelangt der blinde Verbannte in den heiligen Hain von Kolonos bei Athen. Hier darf er Ruhe finden, die Götter haben ihn geleitet. Der edle, geradezu demokratisch legitimierte König Theseus gewährt dem Lumpenvagabunden Asyl, doch dank Orakelsprüchen verwandelt sich der Geächtete plötzlich in ein Objekt der Begierde. Die Grabstätte des Ödipus, kündet dunkler Rede Sinn, verheißt dem Umland Glück und Segen, Sieg und Frieden. Alle wollen sie deshalb den künftigen Leichnam als Joker im Machtspiel haben: Schwager Kreon scheut nicht davor zurück, Ödipus' Töchter Antigone und Ismene zu kidnappen, um den einst Ausgestoßenen heim zu zwingen, und Sohn Polyneikes benötigt ihn im Kampf um Theben gegen seinen Bruder Eteokles. Theseus und der Chor der Koloner, aber auch die Fluchgewalt des Ödipus wissen das zu verhindern. Nun schlägt, unter Donnergrollen, seine letzte Stunde. Der Leidensolympionike hat ausgelitten, er verschwindet im Hain, geht ein in die Unterwelt und wird zur buchstäblichen Kultfigur, zum Heroen. Was bitte interessiert daran heute noch?

Schlicht und einfach alles. Zugegeben: Steins und Sophokles' Triumph ist ausschließlich mit Klaus Maria Brandauer vorstellbar. Ungern hört der 66-Jährige den Komplimentbegriff der "Alterskarriere", und dass er diese der Zusammenarbeit mit Peter Stein verdanke. Trotzdem steht außer Zweifel: Mit wechselseitiger Hilfe holen die beiden das jeweils Beste aus sich heraus, erst aneinander wachsen sie über sich hinaus - ob bei Schillers "Wallenstein" oder bei Kleists "Zerbrochnem Krug". Der Ödipus bildet nach dem Dorfrichter Adam den ganzvollen Höhepunkt einer Trilogie des Neu- und Wiedersehens. Brandauer ist mehr als ein Star, er ist ein großer, wunderbarer Schauspieler.

Das zeigt sich in der absoluten Selbstbeschränkung, in einer Virtuosität, die das Virtuose längst hinter sich gelassen hat: Auch gedämpftes Licht vermag zu strahlen. Brandauers Ödipus singt keine Arien, sondern sein Lebens- und Schicksalslied. Mit höchster, ins Natürliche kippender Kunstfertigkeit. Er scheint in sich hineinzuhorchen, um innere Stimmen zum Klingen zu bringen. Klar, dass der Tonfallkünstler Brandauer gleichermaßen über aufbrausende Lautstärke, Trompetengeschmetter und schneidenden, vernichtenden Hohn verfügt: Die Muse des gebrechlichen Greises ist der Grimm, sein berüchtigter Jähzorn. Mitten ins Herz zielen und treffen seine Flüche, blicklose Finsternisaugen starren ins weite Land der Seele. Jede winzige Geste des Ertastens und der Zärtlichkeit, der mühsam schlurfende Gang formen eine unvergessliche Gestalt. Ein Mensch, geschlagen, aber nicht gebrochen.

Im Rollstuhl karrt sich der feuerrot gewandete Kreon von Jürgen Holtz über Ferdinand Wögerbauers spartanisch gestaltete Bühne: ein Fiesling von Format, Brandauers fast ebenbürtiger Widerpart in verbaler Schlacht.

Und kaum genug zu rühmen: die Leistung des Chors im Wechsel von Unisonopassagen und solistischen Einsprengseln. Stein zaubert aus dem humpelnden Altmänner-Dutzend ein Gruppenbild der Individualitäten, schwankend zwischen Weisheit und Geschwätzigkeit, Mut und Kleinmut. Wir kennen solch opportunistisches Völkchen, brauchen nur in den Spiegel zu schauen.

Aus dem unverfälschten literarischen Testament des Sophokles sind jedoch sogar positivere Lehren zu ziehen: Der Grad von Kultur und Zivilisation einer Gesellschaft misst sich am Umgang mit den Fremden und Gestrandeten, wie Ödipus in Athen einer war. Der Schutzflehende ist der Schutzbefohlene, er hat das unveräußerliche Recht der Gastfreundschaft zu genießen.