Nicol Ljubic erzählt in “Meeresstille“ von Liebe und Schuld

Es gab überraschende und erfreuliche Veränderungen im Zusammenleben der Bürger in Visegrad, einer Stadt im Osten Bosniens. Es ist Frühjahr 1992, und plötzlich kümmern sich die Bewohner um ihre Stadt. Sie sind reinlich wie noch nie. Jeder kehrt die Straße vor seinem Haus; die öffentlichen Plätze werden gemeinsam gesäubert. Davon berichtet ein Zeuge in einem der Kriegsverbrecher-Prozesse in Den Haag.

Angeklagt ist der serbische Englischdozent Zlatko Simic, er soll an der Verbrennung einer 42-köpfigen muslimischen Familie beteiligt gewesen sein. Simic ist ein angesehener Shakespeare-Liebhaber, ein Intellektueller wie Karadzic. Die Sauberkeit der Bürger ist zynisch, sie betrifft viel Grundsätzlicheres. Die ethnischen Säuberungen sind für den Tod Tausender Muslime verantwortlich. Robert, ein Historiker aus Berlin, verfolgt als Besucher den Prozess gegen Simic. Er liebt dessen Tochter Ana, der Schatten der Vergangenheit hat sich über ihre Beziehung gelegt.

Nicol Ljubic, ein in Griechenland, Schweden, Russland und Bremen aufgewachsener Schriftsteller, hat sich mit seinem vierten Roman "Meeresstille" viel vorgenommen. Er erzählt die Liebesgeschichte zwischen Robert und Ana, und er erzählt vom Krieg in Jugoslawien, von Mord, Trauma und Schuld. Das ganze auf 190 Seiten - was notwendigerweise nach Verknappung verlangt (und ein, zwei handwerkliche Fehler hervorruft; sie fallen nicht ins Gewicht). Umstandslos springt der aus Roberts Perspektive erzählte, um eine zurückliegende und doch nicht vergehende Vergangenheit zirkulierende Roman aus der Liebesidylle des Paares in den Gerichtssaal und wieder zurück.

Dabei verhandelt der Konflikt des Protagonisten, der sich selbst mit der kroatischen Vergangenheit seines Vaters nie beschäftigt hat, die tendenzielle Unlösbarkeit eines moralischen Dilemmas: Darf ich über die Zustände im Krieg, den ich nicht erlebt habe, urteilen? Darf man Mörder schützen? Adornos Wort, nachdem es kein richtiges Leben im falschen gibt, wird in Ljubic' ergreifendem Buch neu verhandelt. Seine größte Evidenz bekommt "Meeresstille" im zwiespältigen Charakter Simic': Es gibt keine für alle offensichtlichen Wahrheiten.

Nicol Ljubic: Meeresstille. Hoffmann und Campe, 190 Seiten, 17 Euro