Nobelpreisträgerin Toni Morrison wird immer ergreifender, je mehr sie - wie in “Gnade“ - ihre afroamerikanischen Wurzeln thematisiert

Das Wort "Gnade", das diesem Roman seinen Titel gab, steht in ihm nur ein einziges Mal geschrieben. Aber was Gnade bedeutet, wird beschrieben, reflektiert und ausgeführt. Seine Heldin ist ein afroamerikanisches Mädchen, Florens, anfangs etwa sieben Jahre alt und Tochter von Sklaven. Nach Jahren der Schuldknechtschaft - das Kind wird anstelle der Begleichung von Schulden einem Einwanderer aus Europa gegeben - kann Florens sagen: "Ob Sklavin. Ob frei. Ich bestehe." Das ist das Thema dieses ergreifenden Romans. Es geht um die menschliche Würde.

Toni Morrison, 79, die große US-amerikanische Autorin, die für ihr Werk mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, hat mit "Menschenkind" ein Meisterwerk geschaffen. Womöglich übertrifft es die Afroamerikanerin nun mit dem Roman "Gnade". Dieser Roman über Menschlichkeit in Zeiten der Sklaverei, geschrieben in mehreren Perspektivwechseln, Rückblenden und aus der Sicht verschiedener Figuren, ist überwältigend in seiner Konzentration auf das Humane. Wer das Buch liest, versteht nicht nur die Geschichte Nordamerikas nach seiner Besiedlung, sondern lernt auch Menschen kennen - wenngleich imaginierte Personen -, die für die Befreiung der Sklaverei stehen. Das war, so zeigt das Buch, ein in der Geschichte beispielloser Akt, den progressive weiße Amerikaner mit der Abschaffung der Leibeigenschaft zustande gebracht und damit die Welt beeindruckt haben. Morrisons Vorfahren waren auch Sklaven, der Roman ist eine Rückkehr zu ihren Wurzeln, gleichsam ein Vermächtnis.

Im Oktober 1682 gelangt der Europäer Jacob Vaark an die Küste von Virginia und folgt einem Pfad der Lenape-Indianer ins benachbarte Maryland. Er stapft durch die Brandung wie "durch einen Traum", in dem ihm Reichtum verheißen wird. Er kommt aus ärmlichen Verhältnissen, ist in einem Armenhaus aufgewachsen und überrascht worden durch einen Verwandten, den er nie kennengelernt hat und dessen Erbe er jetzt antritt. Der junge Kaufmann ist nun aber auf dem Weg zu einem Geschäftspartner, der ihm Geld schuldet. Der portugiesische Pflanzer D'Ortega, dessen Plantage er aufsucht, ist reich geworden durch die rücksichtslose Ausbeutung seiner Sklaven, einer "Flotte voller kostenloser Arbeitskräfte", so Morrison. Er lebt mit seiner Frau und den Söhnen, die gepuderte Perücken tragen, in einem Palast aus Steinen, die leuchten wie Honig, ständig brennen Kerzen und die Atmosphäre ist steif.

Vaark verabscheut den Neureichen und dessen verschwenderischen Pomp, will aber trotzdem so leben wie er, so den Reichtum mehren. Seine Frau und er haben Pech gehabt, drei Kinder starben bei der Geburt, eine fünfjährige Tochter bei einem Unfall. Weil D'Ortega finanziell gerade nicht flüssig ist, sein Besitz sind vor allem Menschen in Gefangenschaft, bietet er Vaark einen seiner Sklaven an. In dem Zusammenhang wird er von einer Mutter angefleht, sich ihrer kleinen, etwa sieben Jahre alten Tochter zu erbarmen. Vaark zahlt für das Mädchen zwanzig Pesos und nimmt es mit auf seine Farm, es soll seine Frau Rebekka trösten, indem sie wieder in die ersehnte Mutterrolle schlüpfen und sich um ein Kind kümmern kann. Florens folgt ihm in viel zu großen Schuhen, abgelegte Treter ihrer Herrin. Sie weiß nicht, was sie erwartet, ist aber von einem vagen Vertrauen in die Zukunft erfüllt. So wird sie zur Symbolfigur des amerikanischen Urmythos vom land of the free, das allen eine Chance bietet.

Nach diesem Vorspiel wird abrupt die Perspektive verändert, Morrison erzählt nun aus dem Rückblick der acht Jahre älteren Florens. Da ist ihr Retter Vaark bereits verstorben und sie begibt sich auf einen gefährlichen Fußmarsch durch die Wildnis zu einem schwarzen Schmied, der eine Zeitlang auf der Farm der Vaarks tätig war, das kunstvolle Tor anfertigte und für den die Heranwachsende in Liebe, die womöglich nur Schwärmerei ist, entbrannt war. Auch andere Figuren treten nun in den Roman ein. Darunter eine zugewanderte Deutsche, die "in Pacht gegeben" wird, ein Lehndiener, eine von Presbyterianern gekaufte Indianerin und ein Homosexueller. Morrison baut in ihrem Buch die Zeit nach, in der die "Konstruktion von schwarzer Haut und Sklaverei" selbstverständlich war. Zugleich wird vorgeführt, wie multikulturell schon damals die nordamerikanische Gesellschaft - ein Riesenland voller Zuwanderer aus Dutzenden Nationen und mehreren Rassen - geprägt war.

Florens ist auf dem Weg nach Norden, auf dem Weg zu sich selbst. Als sie bei dem Schmied anlangt, einem freien, kräftigen, selbstbewussten Mann, der bereits die Zukunft vorausnimmt, ist sie ein gewandelter Mensch, der weiß, was er will: auch frei sein. Was das bedeutet, das hat Toni Morrison in einer ungeheuer dichten und überwältigenden Erzählung deutlich gemacht. Ein großes Menschenbuch.

Toni Morrison: "Gnade". Übersetzt von Thomas Piltz. Rowohlt. 224 S., 18,95 Euro